Ingo Elbe hat durch seinen Artikel Marxismus-Mystizismus in dieser Zeitschrift eine Debatte ausgelöst, die durch den folgenden Abdruck seiner Replik beendet wird. Die Art seiner Erwiderung macht jedoch diese kursorische Vorbemerkung erforderlich.
Ingo Elbe erhebt den Vorwurf, wir hätten ihn willentlich missverstanden und zwar mit der bösen Absicht, seine Person moralisch-politisch zu delegitimieren. Dass er unsere Kritik als einen solchen Versuch interpretiert, tut uns leid. Der sachliche Dissens, und einen anderen haben wir nicht geäußert, bleibt hingegen bestehen und wird in der Replik wünschenswert deutlich. Unsere Kritik richtet sich gegen seinen Begriff von Wissenschaft bzw. gegen die Vorstellung, man könne den Kapitalismus einerseits als vernünftige und begrifflich vollkommen durchsichtige Veranstaltung darstellen und anderseits von außen eine Norm an diese herantragen, die diese negiert. Indem Elbe dies tut, vertritt er einen moralischen Dezisionismus. Woher die Norm kommt, für die er sich entscheidet und die er „vorschreiben möchte“, bleibt dunkel. Elbe ist sich der Willkür bewusst und versucht sie durch Brückenkriterien nachträglich abzustützen. Die „menschliche(n) und historische(n) Möglichkeit(en)“ des Untersuchungsgegenstandes werden dadurch erst ab dem Moment hinzugedacht, an dem sich Elbe gegen diesen Gegenstand entscheidet. Die Entscheidung selbst wird so jedoch nicht geklärt. Sie bleibt seinen persönlichen Moralvorstellungen und Belieben überlassen. Als Theoretiker stellt sich Elbe über das Kapital und meint deshalb per normativer Entscheidung über es verfügen zu können. Er folgt in seiner Argumentation jener Max Webers und des Kritischen Rationalismus und behauptet doch, ihnen nur einzelne Argumente entliehen zu haben
Warum der Kapitalismus nicht sein soll, ist für Elbe eine Frage, die mit der Analyse des Kapitals nichts zu tun hat, da er sich dieses als gelöstes Rätsel, das er erst feinsäuberlich zerlegen und dann wieder begrifflich zusammensetzen kann, vorstellt. Gerade weil das Kapital von Menschen gemacht sei, könne es auch auf diese zurückgeführt werden, daran sei nichts mystisches. Das Kapital sei also gar kein automatisches Subjekt, sondern als solches nur eine fetischistische Gedankenform, die im weiteren Gang der Darstellung von Marx als solche enttarnt werde. Als eigentliches Subjekt wird dann die Arbeit oder allgemeiner: der Mensch hinter den Verschleierungen erkannt. Doch die ideologischen Formen beherrschen die Menschen als Realabstraktionen tatsächlich. Die Menschen sind nicht Herren ihres eigenen Geschicks. Ein emphatischer Begriff von Vernunft muss angesichts dieses Zustandes bei dessen Beschreibung an Grenzen stoßen, die sich bei Marx in paradoxen Formulierungen wie „theologische Mucken“ oder auch „automatisches Subjekt“ ausdrücken. An ihnen wird die reale Verrücktheit der Verhältnisse deutlich, die Elbes Ansatz zwangsläufig rationalisieren muss. Die Objektivität und die Begriffe, mit der sie erfasst werden kann, bilden eine Einheit mit dem Interesse, diese zu revolutionieren. Marx konnte dieses Interesse seiner Kritik stillschweigend zu Grunde legen. Er analysiert das Kapital nicht erst wertfrei und legt dann normative Maßstäbe an, sondern zeigt, dass das Kapital der Vernunft widerspricht, weil es die Spaltung der Menschheit zur Grundlage hat. Heute ist diese Einheit problematisch geworden, weil das Interesse selbst verloren zu gehen scheint. Die Totalität droht sich ihrer eigenen Negation zu bemächtigen und dadurch mit sich selbst identisch zu werden.
Die Redaktion
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Es ist schon ein Kreuz. Man muss zwar der Redaktion Prodomo dafür danken, dass sie eine kontroverse Diskussion über Grundlagen der kritischen Theorie zulässt. Doch die Debatte nimmt langsam aber sicher den Charakter dieser ermüdenden Online-Foren-Diskussionen mit ihren zigfachen Antworten auf Antworten usf. an. Zumal die Redaktion Prodomo sich immer wieder bemüht, meine Positionen falsch zu verstehen und mich als jemanden hinzustellen, der sich der akademischen Erbsenzählerei, nicht aber der menschlichen Emanzipation verpflichtet weiß – sich also inhaltliche Missverständnisse mit dem Versuch einer moralisch-politischen Delegitimierung meiner Person verbinden. Solcher „Waffen“, mit denen man sich politisch wie intellektuell lediglich ins eigene Knie schießen kann, werde ich mich auch weiterhin nicht bedienen.
Ich will vielmehr die Zeit und Aufmerksamkeit der interessierten Leserschaft nicht über Gebühr strapazieren, weshalb ich mich nur kursorisch einigen Vorwürfen widmen will, die Philipp Lenhard in der letzten Ausgabe der Prodomo gegen meine Position erhoben hat.
Zunächst fällt auf, dass ständig die Argumentationsebene gewechselt wird. Lenhard stellt z.B. einige Thesen zu den Ursachen und emanzipatorisch-utopischen Gehalten von Religion auf, die ich weitgehend teilen würde. Er verwechselt dabei meine Kritik am theologischen Charakter bestimmter Marx-Deutungen mit einer flachen, bürgerlich aufklärerischen Religionskritik, die sich nicht um eine bestimmte Negation von Religion [1] kümmert. Was ich kritisiere, ist aber lediglich die irrationale Schwundstufe und letzte Rettungsinstanz theologischen Denkens, nämlich das Bekenntnis zum Glauben an etwas, weil es irrational ist, und die Transposition dieser Denkfigur in den marxistischen Diskurs. Es ging mir weder um die emanzipatorischen Gehalte noch um die Ergründung der Ursachen von Religion. Das ist ein anderes Thema. Dass allerdings mit den von mir kritisierten Argumentationsfiguren (bzw. Argumentationsverweigerungsfiguren) eines „credo quia absurdum est“ nichts Emanzipatorisches angezeigt ist, ist offenbar bei Philipp Lenhard noch nicht angekommen. Mit solch einer Formel, die sich offensiv gegen jede Bemühung um begrifflich-rationale Vermittlung wendet, kann man nämlich letztlich alles behaupten und legitimieren.
Das führt mich zu der Unterstellung, ich behaupte, meine Rationalitätsstandards „nicht begründen zu müssen“. Offenbar hat Lenhard nicht bemerkt, dass ich sowohl im ersten als auch im zweiten Text jeweils in einer Fußnote angemerkt habe, dass ein sinnvolles (d.h. überhaupt etwas bezeichnendes) Sprechen ohne die Befolgung des Non-Kontradiktionsgebotes gar nicht denkbar ist. Ich habe auf Aristoteles’ derartige transzendentale Begründung des Widerspruchsvermeidungsprinzips sowie auf die ausführliche Kommentierung derselben seitens Tugendhat/Wolf hingewiesen. Wer sich damit auseinandersetzen will, mag dort weiterlesen. Mir ging es in meinen Texten um eine angemessene Deutung der Marxschen Texte, weil diese immer noch die gründlichste und schärfste Analyse des Kapitalismus in seinen Grundstrukturen bieten, die wir haben. Dass man zu deren Verständnis keinerlei logische Widersprüche benötigt, habe ich versucht zu zeigen. Mir ging es weder um ein Adorno-Bashing noch um ein „Bekenntnis“ zum Kritischen Rationalismus, wie mir Lenhard das unterstellt. Ich „bekenne“ mich nicht zu etwas, ich finde Argumente vernünftig oder unvernünftig. Nebenbei sollte auch dem Eindruck entgegengewirkt werden, hier ginge es um eine Auseinandersetzung ‚akademischer Marxismus’ oder gar ‚Kritischer Rationalismus’ vs. „antideutscher Kommunismus“ (Lenhard). Meine erste Kritik am Marxismus-Mystizismus beschäftigte sich nur am Rande mit der ISF und hauptsächlich mit Vertretern des akademischen Marxismus von den 1970er Jahren bis heute. Wer deren Schriften kennt, wird sie nicht gerade eines antideutschen Kommunismus verdächtigen können.
Zum Thema Vernunft ist noch Folgendes anzumerken: Lenhard unterstellt mir, ich wolle den Marxschen kategorischen Imperativ verabschieden und sei damit des Desinteresses an Emanzipation und der akademischen Erbsenzählerei überführt. Wenn ich mal von der Entgleisung absehe, meiner Person und meinem Handeln eine emanzipatorische, bzw. überhaupt politische Legitimation abzusprechen, so bleibt auch hier wieder lediglich ein Missverständnis übrig, nämlich die Behauptung, ich wolle den Marxschen kategorischen Imperativ verabschieden, weil Jochen Bruhn ihn nicht wissenschaftlich begründen könne. Davon ist in meinem Text aber keine Rede. Ich teile ja die These, die Handlungsanleitung, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx), könne nicht wissenschaftlich begründet werden, leite aber daraus nicht die merkwürdige Konsequenz ab, man dürfe nun nicht mehr dem gemäß handeln. Gerade deshalb kritisiere ich auch Bruhns Aussage, dieser Imperativ sei durch die Verhältnisse selbst erwiesen, sei eine Evidenz der Vernunft [2]. D.h., es ist Bruhn, der den Imperativ offenbar nur dann akzeptieren kann, wenn er nicht eine menschliche Entscheidung darstellt, die sich auf empirische Möglichkeiten zu stützen vermag, aber niemals selbst ‚bewiesen’ werden kann [3]. Es ist Bruhn, der nur dann jemanden als Kommunisten akzeptiert, wenn dieser aus einem Sein unmittelbar ein Sollen folgert, also naturrechtlich argumentiert. Da dieser Zusammenhang zwischen Sein und Sollen evident sein und jenseits jeder Diskussion stehen soll, legt Bruhn nahe, man müsse seinen Ansatz als Offenbarungserlebnis akzeptieren oder man stelle sich außerhalb der Vernunft – eine Handlungsanleitung für die Inquisition, deren Sprache Bruhn mit seinem Schwadronieren über das ‚Vernichten’ ‚geistesschwacher’ Gegner ja schon perfekt beherrscht.
Ein weiteres Missverständnis betrifft die Behauptung, ich leugne mit meiner These vom logisch-systematischen Charakter der Analyse im Kapital, dass der „Begriff des Kapitals selbst historisch ist“ und unterstelle, das „Kapital [sei] seit 200 Jahren gleich geblieben“. Beide Thesen werden immer wieder gerne von traditionsmarxistischer Seite der neuen Marx-Lektüre vorgeworfen. Es kann der Analyse der Bestimmungen des Kapitalismus, die ihn zum Kapitalismus machen, aber nicht um eine historisch-konkrete Analyse bestimmter Formen des Kapitalismus gehen, sondern zunächst nur um eine Analyse der Form Kapitalismus selbst. Erst daraufhin ist eine Analyse der Formen des Kapitalismus, seiner epochalen, nationalen usw. Ausprägungen möglich. Diese Untersuchung muss es auch geben, aber sie beruht auf der abstrakten Strukturanalyse, sonst könnte sie eben auch nicht von einem Wandel des frühen zum „organisierten Kapitalismus“ sprechen. Der Vorwurf geht einfach am Erklärungsanspruch vorbei. Inwiefern Logisches und Historisches in der Ökonomiekritik auftauchen, dazu nur folgende kurze Bemerkungen:
Das Historische innerhalb des Logischen muss in zweifacher Weise berücksichtigt werden: 1. Der Gehalt der Kategorien der logisch-systematischen Darstellung ist historisch-spezifisch. Das heißt aber nicht, dass die Darstellung deshalb eine historische Abfolge von Sachverhalten behandelt: Historisch-Spezifisches als Gegenstand der Analyse darf nicht mit einer historischen Analyse des Gegenstandes verwechselt werden. Historische Analyse der modernen Produktionsweise kann umgekehrt nur ausgehend von einem in systematischer Analyse gewonnenen Begriff des Kapitals erfolgen, weil die Relevanz- und Auswahlkriterien historiographischer Betrachtung sich erst aus einem Begriff des Kapitals heraus ergeben. 2. Der Systemzusammenhang der kapitalistischen Produktionsweise weist eine innere Historizität [4] auf: Die logisch-systematische Darstellung behandelt demnach auch strukturbedingte historische Dynamiken, die sich innerhalb der Gesellschaftsformation entfalten, aber hinsichtlich ihrer Ergebnisse nicht ableitbar sind. Historisches kommt aber auch als zweifache Begrenzung logisch-systematischer Formanalyse in Betracht: 1. Als historische Kontingenz singulärer Ereignisse, die nicht im Ableitungszusammenhang von Wesen und Oberfläche aufgehen und nicht notwendig aus den Grundstrukturen des Systems hervorgehen. 2. Als äußere Historizität des Systems (‚Werden’), welche die Voraussetzungen der Selbstreproduktion des Systems (‚Dasein’) bezeichnet.
Marx analysiert daher kein absolutes, sondern ein endliches System und muss damit die als Systemanalyse praktizierte dialektische Darstellung in ihren Grenzen betrachten. Endliche Systeme haben Voraussetzungen, die nicht ursprünglich von ihnen selbst gesetzt, sondern erst nachträglich von ihnen reproduziert werden.
Zum Schluss eine Bemerkung zum hier angeführten Begriff der deutschen Ideologie. Hans Albert hat Adorno nicht etwa vorgeworfen, mitschuldig an seiner eigenen Verfolgung zu sein, wie Lenhard unterstellt. Er hat (in diesem konkreten Fall) dem „Flakhelfer“ Jürgen Habermas ein Verhaftetsein in einer deutschen Ideologie vorgeworfen, deren Sinngehalt sich weitgehend mit dem Marx-Engelsschen Begriff von deutscher Ideologie als widersinnigem, spekulativ-verkehrtem Denken orientiert. Dass entscheidende Vertreter des Kritischen Rationalismus, allen voran dessen Begründer Karl R. Popper, der übrigens als Jude vor den Nazis flüchten musste, dennoch offene Antikommunisten waren und von Marx’ Theorie nicht viel verstanden haben, worauf Jochen Bruhn zu Recht hinweist, habe ich nie bestritten und war ebenfalls gar nicht mein Thema. Wer allerdings jeden positiven Rekurs auf ein Argument mit dem Bekenntnis zu einer Weltanschauung verwechselt, dem mag das freilich nicht aufgehen.
Anmerkungen:
[1] Zur bestimmten Negation der Religion durch den Atheismus vgl. die Aussage Feuerbachs: „Ein [...] Atheist im gewöhnlichen Sinne, ist daher auch nur der, welchem die Prädikate des göttlichen Wesens [...] Nichts sind, aber nicht der, welchem nur das Subjekt dieser Prädikate Nichts ist. Und keineswegs ist die Verneinung des Subjekts auch notwendig zugleich die Verneinung der Prädikate an sich selbst“. Für den kritischen Atheisten haben – im Gegensatz zum Theisten – die Eigenschaften Gottes (also die vom Menschen in Gott projizierten Wünsche und Bestimmungen) „eine eigne, selbständige Bedeutung“ (Feuerbach 1988, S. 64f.). Allerdings hat auch Feuerbachs Religionskritik, wenn sie auch den Nihilismus kritisiert, genau die apologetische, antiutopische Schlagseite, auf die Philipp Lenhard als Charakteristikum des gewöhnlichen Atheismus zu Recht hinweist. Vgl. dazu Schmieder 2004, S. 68ff. sowie meine Rezension dazu Elbe 2006.
[2] Ich kritisiere Bruhns objektivistische Ethik, die mit Hegelianischem Vokabular verkleidet wird, nicht die Marxschen normativen Kriterien als solche.
[3] Ich weise nochmals darauf hin, dass es bestimmte Brückenprinzipien gibt, die normative menschliche Entscheidungen wenigstens indirekt rational kritisierbar machen. Diese sind z.B. das „Realisierbarkeits-Postulat“ (ich kann nur dann etwas sinnvoll als Norm vorschreiben, wenn es prinzipiell im Rahmen menschlicher und historischer Möglichkeit liegt, diese Norm zu verwirklichen) sowie das „Kongruenz-Postulat“ (deskriptive Theorieelemente von Normensystemen, z.B. die Frage, ob es Gott ist, der uns bestraft oder unser Gewissen, sind wissenschaftlicher Kritik zugänglich). Vgl. dazu Albert 1991, S. 91f.
[4] Zu diesem Begriff vgl. Ritsert 1973, S. 66f.
Literatur:
Albert, Hans: Traktat über kritische Vernunft [1968] , 5. verbesserte und erweiterte Auflage, Tübingen 1991.
Elbe, Ingo (2006): Warenform, Medienform, Denkform. Die fatale Modernität Feuerbachs. In: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 2006, S. 207-217.
Feuerbach, Ludwig (1988) [1843/ 49]: Das Wesen des Christentums, Stuttgart
Ritsert, Jürgen (1973): Probleme politisch-ökonomischer Theoriebildung, Frankfurt/M.
Schmieder, Falko (2004): Ludwig Feuerbach und der Eingang der klassischen Fotografie. Zum Verhältnis von anthropologischem und Historischem Materialismus, Philo-Verlag, Berlin/Wien.
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