I. Religion
Ingo Elbes Urteil lautet: Theologie. Und mit der Religion ist es so eine Sache. Leichtfertig meint der sich fortschrittlich dünkende Zeitgenosse, sie sei ja schließlich eine Angelegenheit von vorgestern und nur an Heiligabend verschlage es ihn gelegentlich in die Kirche, um den altmodischen Eltern eine Freude zu machen, die den Besuch des Gottesdienstes zumindest am hohen Feiertage für eine Bürgerpflicht halten. Mit Religion haben diese Besuche nur noch sehr wenig zu tun, mit dem Gefühl der Gemeinschaft um so mehr. Man könnte sich darüber freuen, dass die Religion aus dem Alltag der meisten Menschen im Westen verschwunden zu sein scheint und die Sinnstiftung, die sie dennoch vielen zuteil werden lässt, gegenüber anderen Angeboten auf dem Markt der Ideologien als „kleineres Übel“ ansehen.
Allein, so einfach ist es nicht. Entgegen allem Anschein ist die Religion keineswegs verschwunden, sondern sogar omnipräsent. Die Entzauberung der religiösen Welt durch die Aufklärung hat, weil diese nicht die Grundlagen des Glaubens antastete, sondern nur ein „Umdenken“ durchpeitschte, die Religion ebenso ihren Zwecken gemäß umgeformt wie sie sie unter die Oberfläche des gesellschaftlichen Lebens gezwängt, d.h. zur Privatsache erklärt hat. Insofern die Religion von nun an als Privatsache galt und für die Geschicke der Menschheit keine Rolle mehr spielen sollte, wurde sie zum individuellen, ins Innere gekehrten Statthalter des Besseren. Was heute oft großspurig als „Atheismus“ daher kommt [1], ist nicht mehr als ein bloßes Leugnen Gottes, das sich nicht einmal mehr die Mühe zu machen braucht, die Argumente der Aufklärung gegen die einst übermächtig erscheinende Herrschaft Gottes in Stellung zu bringen, weil ohnehin alle zu wissen glauben, dass die Religion nichts als Spuk sei und es darauf ankomme, zu fragen, was wirklich der Fall ist. Marx berühmtes Diktum, es komme nicht darauf an, die Wirklichkeit zu interpretieren, sondern sie zu verändern, heißt bezogen auf die Religion: nicht einfach die Existenz Gottes zu bestreiten, sondern zu fragen, warum die Menschen an ihn glauben. [2] Viele der so genannten Atheisten sind es nicht um der noch ausstehenden Verwirklichung der Vernunft willen, sondern gerade weil sie das Bestehende nicht mehr ändern wollen. ‚Gott, denn gibt´s doch nicht’, heißt umgekehrt: ‚Es gibt jetzt und immer nur das, was der Fall ist.’ Der Sieg, den der Positivismus davon getragen hat, ging auf Kosten der Idee des Besseren, die als „Mystizismus“ und vermessener normativer Anspruch, als Moral letztlich, verunglimpft wird. Es mag angenehm sein, nicht religiösen Geboten gehorchen zu müssen und diese Behaglichkeit ist für sich genommen schon ein guter Grund, sich der Religion zu verweigern, aber die Kritik der Religion, die Marx schon einmal – wie sich mittlerweile herausgestellt hat, fälschlich – als abgeschlossen betrachtet hatte, geht darüber hinaus. Sie will die Basis des Glaubens, die Spaltung der Gattung, aus der Welt schaffen. Genau dies ist der Grund dafür, dass Marx im Kapital stets in die „Nebelregion der religiösen Welt“ (MEW 23, S. 86) flüchten muss: das Kapital ist Gott, die Spaltung der Gattung in Allgemeines (Gott), Besonderes (Heiliger Geist) und Einzelheit (Christus). „Wer in diesem entsetzlichen Bild eines unschuldig Gemarterten nicht die Wahrheit der Geschichte sehen kann“, schreibt Terry Eagleton in Bezug auf den Anblick des Gekreuzigten, der müsse wohl jenem Atheismus einer naiven Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit anhängen. [3]
Die bürgerliche Aufklärung, so wissen wir nicht nur von Adorno und Horkheimer, ist aus sich selbst heraus in ihr Gegenteil, die Barbarei, umgeschlagen. Dieses leidvoll durch die Erfahrung von Auschwitz gewonnene Urteil ist selbstverständlich kein Abschied von der Aufklärung, sondern der Schluss, dass die Aufklärung „ihr eigenes Schicksal“ besiegelt, wenn sie nicht „die Reflexion auf dieses rückläufige Moment“ in sich aufnimmt (Horkheimer/Adorno 1998, S. 3). Mit einem Satz: Solange die Aufklärung nicht vollendet ist, sondern auf der Stelle tritt, verliert sie kontinuierlich an Substanz und es ist immer wahrscheinlicher, dass sie wieder in Barbarei umschlägt. Nichts anderes ist mit Adornos kategorischem Imperativ gemeint. Das Problem der Religion scheint diesem Gedankengang irgendwie äußerlich zu sein, denn es stellt sich ja tatsächlich die Frage, was diese mit dem Nationalsozialismus, mit Auschwitz überhaupt zu tun haben soll. Der Antisemitismus der Nazis stand zwar in einer christlichen Tradition, aber ebenso richtig ist es, dass die Nazis ihre Judenfeindschaft nicht religiös begründeten, sondern antikapitalistisch. Das christliche Abendland als Hort des Bösen, wie es von vielen antiwestlichen Linken dargestellt wird, gibt in der Reichhaltigkeit seiner Geschichte für viele höchst heterogene Entwicklungen Begründungen, die dann als „Vorläufer“ relativ beliebig herausgepickt werden können – schließlich ist es unmittelbar einsichtig, dass das Christentum die politische und Geistesgeschichte Europas bis in seine kleinsten Glieder hinein geprägt hat und dass dieses Erbe aus allen Poren heraus quillt. Der Frage nach dem Wesen von Religion stellt sich jedoch kaum jemand. [4] Es kommt den meisten darauf an, dieses oder jenes Ereignis auf religiöse Ursprünge zurück zu führen, um es bloß dadurch zu diskreditieren. [5] Dass das Vorhandensein von Religion nicht nur ein subjektives, sondern auch ein objektives Bedürfnis ausdrückt, das nur durch einen voluntaristischen, aufs Ganze zielenden Akt, der sich Revolution nennt, aus der Welt zu schaffen ist, wird dagegen ignoriert. Nicht allein das Vorhandensein der christlichen und jüdischen Religion ist Indiz dafür, dass die Menschheit noch nicht versöhnt ist, dass sich das Individuum im Widerspruch zur Gattung befindet, sondern auch die heute viel stärker verbreiteten Ersatzreligionen, die sich in festen Glaubenssätzen (Esoterik, Antikommunismus, Antiimperialismus, Ökologismus etc.) äußern und jede für sich das Heilsversprechen der großen Religionen durch die Integration ins jeweilige Kollektiv und durch die Entfesselung von Ressentiments substituieren. Der Gedanke der Versöhnung, der im Christen- wie im Judentum eine so außerordentlich große Bedeutung einnimmt, verweist noch auf ein Unversöhntes, ihre säkularisierten Surrogate dagegen verewigen den schlechten Zustand der Welt. Zwar steht die Religion nicht nur für Trost und Hoffnung, sondern sie schreibt ebenfalls die bestehenden Herrschaftsverhältnisse fort, indem sie die wahre Versöhnung auf das Jenseits (Christentum) oder auf den messianischen Sankt Nimmerleinstag verschiebt (Judentum), jedenfalls aber hält Religion daran fest und gründet geradezu darauf, dass die Versöhnung noch nicht realisiert ist und dass sie sich auch nicht von allein einstellen wird, sondern dass es dafür des Handelns der Menschen bedarf. Ein Handeln, dass nicht theozentrisch, sondern in erster Linie auf das Wohl des Menschen ausgerichtet ist. [6]
Vor diesem Hintergrund erweist sich der Vorwurf der „Theologie“ als Ausdruck einer unaufgeklärten Aufklärung, als erneute Hommage an die positive Wissenschaft, der man mit Gott und derlei Unfug gar nicht erst kommen brauche. Dass das Kapital aber tatsächlich die Stellung Gottes als sich selbst bewegende Bewegung, die alles in Gang hält und ihren Weltenplan gnadenlos vollstreckt, zugleich aber die Möglichkeit des Besseren einschließt und hervorbringt, eingenommen hat, das kann solche Wissenschaft niemals erkennen. Denn dazu bedürfte es der Erfahrung der Ohnmacht gegenüber dem scheinbaren Verhängnis, die in den Begriff des Kapitals selber aufgenommen werden müsste; das Eingeständnis, dass der Theoretiker nicht der über der Sache erhabene Meisterdenker ist, der alles Seiende munter – wie es ihm beliebt – rekonstruieren und in Abstraktionsebenen unterteilen kann und der deshalb mit der Wirklichkeit besser zurecht käme. Schon der Umstand, dass der Theoretiker sich genötigt sieht, mit der Erklärung des Elends als Akademiker sein Geld zu verdienen, ist Ausdruck dieses Elends selbst und verrät, dass er sein Feld doch nicht so erfolgreich bestellt wie er suggeriert.
II. Wissenschaft
Die vorherrschende Wissenschaft, die als säkularisierte Religion in den Köpfen der Menschen sich eingenistet hat und sich zugleich als den großen Antipoden des ,Glaubens’, als Wahrheit nämlich, aufspielt, reklamiert für sich „Wertfreiheit“ (Max Weber) und Objektivität und lehnt es ab, zu sagen, was gut und was schlecht ist. Die Moral gilt ihr nicht als Problem, mit dem sie sich zu beschäftigen hätte und demzufolge ist ihr Wahrheit von der Vernunft getrennt. Mit der Vernunft lässt sich wissenschaftlich nicht arbeiten, weil man sie nicht zum Instrument degradieren kann – das, was nicht nur die Kritische Theorie „instrumentelle Vernunft“ genannt hat, ist daher auch selbst gar nicht mehr vernünftig, d.h. autonom, sondern bloßes Anhängsel der Produktionsverhältnisse, geistiger Abdruck blinder Naturbeherrschung. Es ist gerade die Verdrängung ihres Ursprungs, die sich in der heute fast vollständigen Ignorierung der kritischen und dem Siegeszug der so genannten analytischen Philosophie äußert, die die Wissenschaft in eine ideologische Macht verwandelt, der Absolutheit zugesprochen wird. Eine Absolutheit, die sich – wie ich in der letzten Prodomo versucht habe zu zeigen – bei Ingo Elbe in der unreflektierten Anerkennung der Gültigkeit der formalen Logik zeigt. Aber damit bescheidet sich Elbes Wissenschaftsgläubigkeit nicht. Die Denunziation der von Joachim Bruhn angeführten „Evidenz der Vernunft“ als „Diskurs der Unmittelbarkeit“, d.h. die Absage an den kategorischen Imperativ von Marx (und auch von Adorno), zeigt an, dass es Elbe zumindest in seinen hier zur Debatte stehenden Texten nicht um die Abschaffung menschenunwürdiger Verhältnisse geht, sondern um wissenschaftlich abgesicherte Plausibilität. Bruhn hat deshalb höchst treffend seinem Artikel das Adorno-Zitat „Wahrheit ist objektiv, nicht plausibel“ vorangestellt, weil – was Elbe einfach nicht verstehen will – der kategorische Imperativ weder begründet werden kann, noch überhaupt begründet zu werden braucht. Da schellen bei einem Anhänger der Wissenschaft alle Alarmglocken, weil die ihr zugrunde liegende Illusion, alles habe seinen plausiblen Grund und das Ganze sei vernünftig, in Zweifel gezogen wird. Deshalb schallt Elbe den antideutschen Kommunismus „mystizistisch“ [7] und „theologisch“, weil er zu Recht vermutet, hier würden Prämissen eingeführt, die sich gar nicht überprüfen lassen. Bruhn schreibt, die ISF paraphrasierend, „der Materialismus sei unbewiesen vor dem Kommunismus und werde überflüssig durch ihn“. Wenn man diese Behauptung als widersinnig beschreibt, so liegt man gar nicht falsch, nur gleicht der Sinn des Kapitals einem gordischen Knoten, der nur gewaltsam zu durchtrennen ist.
Elbe versucht das Kapital zu rekonstruieren, also gleichsam Gott zu denken, und es will ihm partout nicht einfallen, dass ihm das weder gelingen kann, weil es nun mal lediglich im Kopf des Theoretikers rekonstruierbar ist, nicht aber als gesellschaftliches Verhältnis, d.h. als Zwang und Herrschaft, noch dass diese abgezogene, ideelle Rekonstruktion irgendwie dazu beitragen würde, die Herrschaft des Kapitals zu stürzen. Das Bilderverbot soll die Menschen nicht von der Erkenntnis abhalten, sondern sie davor bewahren, Gott zu verdinglichen, ihn (oder vielmehr: es) zum Objekt zu machen. Daher kann es nicht darum gehen, die Arbeit am Begriff aufzugeben und sich dem begriffslosen Aktionismus hinzugeben, sondern – siehe oben – im Begriff selber die Ohnmacht mit zu reflektieren, der der Kritiker unterworfen ist.
III. Geschichte
Das tut Elbe so wenig wie er die Erfahrung von Geschichte zulässt. Elbe beharrt zu recht auf dem Vorrang des Logischen gegenüber dem Historischen im Kapital. Das heißt aber nicht, dass die Geschichte im Kapital völlig ausgeblendet wäre oder nur als gelegentliche Bebilderung dienen würde. Elbe aber ist bestrebt, Theorie rein zu betreiben und „alle störenden Zufälligkeiten“, wie Engels das mal nannte (MEW 13, S. 474), beiseite zu lassen. Weil Marx das im Kapital angeblich genauso gemacht habe, fühlt sich Elbe zu seiner antihistorischen, gegenüber der Erfahrung abgedichteten Exegese legitimiert. Karl Marx - der für Elbe eine so große Autorität ist, dass er, geradezu der talmudischen Pilpulistik entgegengesetzt (die der Dialektik nahe steht), über all der philologischen Erbsenzählerei den Geist der Schrift zerstört - hat einmal vom „idealen Durchschnitt“ gesprochen [8], deshalb säubert auch Elbe seine Rekonstruktion von solchen störenden Zufälligkeiten: „’Entwicklung’ der Formen gesellschaftlichen Reichtums (und Zwangs) bezeichnet nicht die Rekonstruktion ihrer geschichtlichen Entstehung, sondern die Erklärung einer Struktur gleichzeitig existierender und sich wechselseitig (voraus-)setzender Formen.“ (Elbe 2007, S. 12) So wenig behauptet werden soll, dass das Kapital historisch aufgebaut ist, so sehr ist doch der Begriff des Kapitals selbst historisch. Nicht nur, weil es historisch abschaffbar ist, sondern auch, weil die stetige Reproduktion des Kapitals dieses nicht unverändert lässt. Folgt man Elbes Darstellung, dann ist sich das Kapital seit 200 Jahren gleich geblieben, weder dessen Opfer, noch dessen Formveränderung tauchen bei ihm auf. Weder eine negative Aufhebung des Kapitalverhältnisses ist mit Elbes Theorie begreifbar, noch die Transformation etwa des liberalen in einen organisierten Kapitalismus (vgl. Jan Gerbers Ausführungen in diesem Heft).
Zu allem Überfluss stellt sich Elbe auch noch dumm, wenn er auf die Anmerkung der Redaktion, dass sein Gewährsmann Albert für die Behauptung, Adorno sei ein „deutscher Ideologe“ gewesen, ein Wehrmachtsleutnant war, nur antwortet, es sei ebenso unsinnig, Agnolis Staatskritik mit dem Hinweis erledigen zu wollen, dass dieser Mitglied in einem faschistischen Jugendverband war. Dass es einen Unterschied macht, ob ein ehemaliger Nazi einen Holocaustüberlebenden der „deutschen Ideologie“ bezichtigt und ihm damit implizit vorwirft, eine Mitschuld an seiner eigenen Verfolgung zu tragen, oder ob ein ehemaliger Faschist gegen den postfaschistischen Staat anschreibt, ist so unmittelbar einsichtig, dass sich wirklich die Frage stellt, ob Elbes Reaktion bloße Ignoranz ist oder ob seine Theorie sich schon soweit gegen die „störenden Zufälligkeiten“ abgedichtet hat, dass er es einfach nicht mehr verstehen kann.
IV. Marxistische Ersatzreligion
Elbes ganze Konstruktion trägt, auch wenn ihm das sicher nicht gefallen wird, religiösen Charakter. [9] Er meint, seine „Rationalitätsstandards“ nicht begründen zu müssen (Elbe 2007, FN 11) und versucht, seine Kontrahenten auf sein Begriffskorsett festzunageln. Wer sich dem widersetzt, wird als Ungläubiger, d.h. als Gläubiger denunziert. Den Mystizismus, den Marx abschaffen wollte, aber nicht in seiner Analyse, sondern in der Wirklichkeit, verdammt Elbe, weil er seinen eigenen Mystizismus, nämlich den des Kritischen Rationalismus, zu dem er sich mittlerweile recht offen bekennt, tangiert. [10] Der Vorwurf des Mystizismus erfolgt gerade deshalb mit solcher Heftigkeit, weil die eigene Religion, die Elbe wie jeder Gläubige als absolute Wahrheit versteht, sich durch die Behauptung einer realparadoxen Wirklichkeit (Marx: „sinnlich-übersinnliche Dinge“, „automatisches Subjekt“, „abstrakte Arbeit“ etc.) herausgefordert sieht wie die katholische Kirche durch die Entdeckungen Galileis. [11] Die Religiosität, die Elbe der Kritischen Theorie vorwirft, ist dabei gar nicht abzustreiten; es hat tatsächlich etwas irrwitziges, verrücktes, immer noch auf der vernünftigen Umgestaltung der Welt zu beharren, auch wenn sich das Elbe, der ja selber Interesse an einer vernünftigen Einrichtung der Gesellschaft bekundet, nicht eingestehen will. Diese Verrücktheit ist in etwa so merkwürdig wie die der Juden, immer noch auf die Ankunft des Messias zu hoffen. Zugleich aber ist sie Ausdruck des intellektuellen Widerstandes, des Versuches, sich nicht dumm machen zu lassen. Wahnsinn und Vernunft liegen in Zeiten wie diesen eng beieinander. Ganz und gar unvernünftig aber ist es, wie Elbe die Unversöhnlichkeit der Religion durch den Glauben an den Buchstaben der heiligen Schrift zu ersetzen. Wenn er die Redaktion dafür tadelt, nicht alles, was Marx geschrieben habe, zu übernehmen, sondern nur das, was ihr in den Kram passt, dann klingt das nicht nur nach einem verstockten Marxologen, sondern ist tatsächlich ein Versuch, die Reinheit der Lehre zu erhalten. Es hat absolut nichts mit Beliebigkeit zu tun, Marx Fehler vorzuhalten, genauso wenig wie es darum gehen kann, den „eigentlichen Marx“ aus dem Hut zu zaubern. Das Ziel ist klar: die Abschaffung des Kapitals. Elbe hat ein anderes: Er weiß sich mit dem reifen Marx im Bunde und hält dem frühen Marx vor, noch zu sehr dem „mystischen Hegel“ angehangen zu haben. [12] Zu dieser Spaltung in den frühen und späten, den reifen Marx ist schon viel publiziert worden und Ingo Elbe kennt diese Bücher mit Sicherheit alle auswendig. Was er aber nicht begriffen hat, ist, dass Marx seine Waffen nur geschärft hat, dass das zu erlegende Ungeheuer, das zu erledigende Unwesen, stets das gleiche war – vor und nach der Herausgabe des Kapital.
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa in jüngerer Zeit Michel Onfray 2006.
[2] Vgl. dazu Fetscher 1965.
[3] Zitiert nach: Der Spiegel Nr. 22/2007, S. 66. Der Originaltext ist nachzulesen auf www.lrb.co.uk/v28/n20/eagl01_.html.
[4] Gerade Horkheimer hat das in seinen Spätschriften intensiv gemacht. Vgl. etwa seine Schriften Theismus – Atheismus, Zum Begriff der Seele oder Religion und Philosophie.
[5] Hier ist mit Religion nur das Christen- und Judentum gemeint, nicht etwa der Islam, der den Gedanken der Versöhnung völlig aus seinem Begriff verdrängt hat.
[6] Vgl. dazu für das Judentum insbesondere Maimon 1992, S. 22-29. Vgl. auch Scholem 1970, auch wenn dieser die Innerlichkeit des Christentums gegenüber den „guten Taten“ meines Erachtens überbetont.
[7] Dass Marx von „nicht eingebildete[n], sondern prosaisch reelle[n] Mystifikation[en]“ etwa der „tauschwertsetzenden Arbeit“ spricht (MEW 13, S. 34), ignoriert Elbe, weil er solche Aussagen für sein Konzept der „Rekonstruktion“ nicht gebrauchen kann. Ebenso wie die Tatsache, dass Marx in seinem Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals von 1873 davon gesprochen hat, dass er Hegels Dialektik habe „umstülpen“ wollen, „um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken“. Das bedeutet gerade nicht, dass es keine Mystifikationen gibt, sondern dass die Vernunft in einer Hülle gefangen gehalten ist, die sie immer nur in verkehrter Form erscheinen lässt: „In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Unterganges einschließt, […] ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist.“ (MEW 23, S. 28).
[8] MEW 25, S. 839. Ein Zitat, das auch Michael Heinrich (2004, S. 29) in seiner gerade bei Antifas populären Einführung an prominenter Stelle bringt, um nicht von Auschwitz reden zu müssen. Er bringt das Zitat explizit gegen eine historisierende Lesart des Kapital in Anschlag. Dabei geht es in der betreffenden Stelle, die sich im Kapitel über die trinitarische Formel befindet, gerade darum, dass Geschichte sich als „blinde Notwendigkeit geltend“ macht. Wenn Marx schreibt, er sehe von den konkreten Auswirkungen dieses blinden Wirkens ab, z.B. von der „Abwechslung von Prosperität und Krise“, dann heißt das nicht, dass die Analyse unhistorisch ist, sondern dass die Geschichte selbst nur noch als die Menschheit „willenlos beherrschende Naturgesetze“ erscheint. Diese Willenlosigkeit der Menschen schlägt in Barbarei um, wenn sie nur noch als Funktionen des Kapitals darben und dessen grausames Telos sich zu Eigen machen. Davon will Heinrich nichts wissen, weshalb er in seinem Abriss über die Geschichte des Marxismus auch den Nationalsozialismus mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt. Er hüpft vom Ende des Ersten Weltkrieges zur Studentenbewegung. Angeklatscht, offensichtlich als Absicherung gegenüber Vorwürfen der Verdrängung, wird dann ein Kapitel über Antisemitismus, welches all denen als korrekt erscheint, denen es nur um einprägsame Definitionen geht.
[9] Wie traditionell marxistisch letztlich Elbes Unterscheidung von Wissenschaft und Religion ist, wird deutlich, wenn man beispielsweise eine Publikation des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED zur Hand nimmt. Dort heißt es in einer Vorbemerkung zu der Sammlung Marx und Engels über Religion (1976): „In diesen Arbeiten haben Marx und Engels den proletarischen Atheismus, der ein entscheidender Bestandteil unserer materialistischen Weltanschauung ist, dargelegt und theoretisch begründet. Sie weisen nach, daß Wissenschaft und religiöser Glaube miteinander unvereinbar sind, und beweisen den fortschrittshemmenden Charakter der religiösen wie jeder anderen idealistischen Weltanschauung.“ (S. 5)
[10] Jean Améry, der ja durchaus auch gewisse Affinitäten zu einer Spielart des Positivismus hatte, erkannte im Gegensatz zu Elbe das emanzipatorische Potenzial der Religion: „Die Zukunft gehört der christlich-atheistischen Zusammenarbeit an der Errichtung einer befriedeten Welt.“ (Améry 1980, S. 33) Das mag an dem ausgeprägt humanistischen Zug liegen, der in seinem Denken stets Priorität hatte.
[11] Im Spiegel Nr. 22/2007 findet sich auf den Seiten 62f eine ziemlich treffende Zusammenfassung dieses atheistischen Glaubens.
[12] Spiegelverkehrt dazu verhält sich der so genannte „unorthodoxe Marxismus“ eines Karl Korsch (1972, S. 116), der gerade die Marxschen Frühschriften als den wahren Marx ausfindig gemacht zu haben meint. Immerhin beharrt Korsch aber darauf, dass auch der späte Marx sich nicht in Einzelwissenschaften untergliedern lasse (S. 98).
Literatur:
Améry, Jean, Atheismus ohne Provokation, in: derselbe, Widersprüche, Frankfurt/M. u. a. 1980, S. 23-33.
Elbe, Ingo, Marxismus-Mystizismus. Oder: die Verwandlung der Marxschen Theorie in deutsche Ideologie, in: Prodomo. Zeitschrift in eigener Sache Nr. 5/2007, S. 11-18.
Engels, Friedrich, Karl Marx, „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“, MEW 13, Berlin 1961, S. 468-477.
Fetscher, Iring, Religionskritik, in: derselbe, Der Marxismus. Seine Geschichte in Dokumenten, Bd. I: Philosophie, Ideologie, München 1965, S. 41-44.
Heinrich, Michael, Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, 2. Auflage, Stuttgart 2004.
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hg.), Karl Marx und Friedrich Engels über Religion, Berlin 1976.
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1998.
Korsch, Karl, Marxismus und Philosophie, Frankfurt/M. 1972.
Maimon, Mose ben, Acht Kapitel. Eine Abhandlung zur jüdischen Ethik und Gotteserkenntnis, 2. Auflage, Hamburg 1992.
Marx, Karl, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 13, Berlin 1961, S. 3-160.
Marx, Karl, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, MEW 23, Berlin 1969.
Marx, Karl, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 3, MEW 25, Berlin 1981.
Onfray, Michel, Wir brauchen keinen Gott. Warum man jetzt Atheist sein muss, München 2006.
Scholem, Gershom, Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum. Mit einer Nachbemerkung: Aus einem Brief an einen protestantischen Theologen, in: Derselbe, Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt/M. 1970.
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