Ausgabe #6 vom

Anything Ghost

Eine Replik auf Joachim Bruhn und die Redaktion Prodomo
INGO ELBE

In seinem Leviathan spricht Thomas Hobbes von dem „Privileg des Widersinns, dem kein anderes Lebewesen ausgesetzt ist als allein der Mensch. Und die Menschen, die ihm am meisten ausgesetzt sind, sind die Professoren für Philosophie“ (Hobbes 1999, S. 34f). So wahr der erste Satz sein mag, so revisionsbedürftig ist doch der letzte. Die Entgegnungen der Redaktion Prodomo und vor allem Joachim Bruhns auf meinen Text über Marxismus-Mystizismus beweisen, dass auch erklärtermaßen subakademische Kombattanten [1], denen in der Regel viel an der Ablehnung von ‚Akademismus’ liegt, an diesem „Privileg des Widersinns“ einen großen Anteil haben.
 
 I.
 
 
Joachim Bruhn behauptet, sowohl die Trennung von deskriptiver und normativer Theorieebene als auch die Ablehnung logischer Widersprüche zur Analyse des Kapitalismus sei dem Anspruch der Marxschen Ökonomiekritik unangemessen. Die Identität von Sach- und Werturteil sowie die Behauptung logischer Widersprüche gehörten geradezu zum Besten an Marx’ Denken [2]. Zu diesem Zweck erklärt er den ‚Reichtum’ statt ‚der Ware’ zur ersten Kategorie in der Marxschen Darstellung des Kapitalismus. Und er hat zunächst ersichtlich recht, denn der erste Satz des Kapital lautet ja: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung’, die einzelne Ware als seine Elementarform“. Darauf folgt aber sogleich: „Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware“ (MEW 23, S. 49). Warum Marx denn nun doch behauptet, seine Untersuchung mit der Ware anzufangen, erklärt uns Bruhn nicht [3].
 
 Bruhns Hinweis ist nur deshalb nicht banal, weil auf diesem sein gesamtes Verständnis des Kapital aufbaut. Denn der von Marx erwähnte Reichtum sei nicht nur Mehrprodukt, also über das zum bloßen kreatürlichen Überleben Notwendige Hinausgehendes, er sei mithin eine reale Chimäre aus deskriptiver und präskriptiver Kategorie, weil er „allgemeine und freie Aneignung nach Bedürfnis“ vorschreibe, verfügbare Zeit „impliziert [...], ihn auch zu genießen“ und damit schließlich „weder Lohnarbeit noch Antisemitismus“ ermögliche. Von einem solchen phantastischen Reichtum ist bei Marx aber keine Rede. Warentausch benötigt zwar ein Mehrprodukt, damit überhaupt etwas ausgetauscht werden kann, doch von diesem Mehrprodukt (einer deskriptiven Kategorie, die lediglich feststellt, dass die Menschen ein Produktivitätslevel erreicht haben, das weit über das ‚von der Hand in den Mund Leben’ hinausgeht) führt kein Argument zur normativen Behauptung, dieser schreibe an sich freie Aneignung vor. Ohne solchen Fragen allzu viel Bedeutung beizumessen, zieht sich Bruhn schlicht auf einen Diskurs der Unmittelbarkeit zurück: wir hätten es hier mit einer „jedweder Diskussion“ entzogenen „Evidenz der Vernunft“ zu tun.
 
 Aufgrund der (von Bruhn reichlich verschwurbelt dargestellten [4]) gewaltsamen Trennung der unmittelbaren Produzenten von ihren Produktionsmitteln [5] als historischer wie struktureller Voraussetzung des Kapitalverhältnisses erhalte dieser phantastische Reichtum aber etwas „Selbstnegatorische[s]“: „Weil die gesellschaftliche Unmittelbarkeit der Gattung in jedem einzelnen ihrer als Individuen gesetzten Exemplare ausbleibt, treibt diese Absenz eine (negative) Vermittlung hervor, die die Spaltung in funktionale Menschen einerseits, bloß phänomenale andrerseits verkehrt synthetisiert“. Dieser Satz, der nebenbei von einem stammt, der sich als erklärter Akademismus-Kritiker begreift, meint wohl, dass Reichtum - aufgrund dieser Klassenspaltung und der Spaltung des Menschen in persönliches Individuum und Klassenindividuum - eine Form der Vermittlung benötigt, die von Bruhn „Wert“ genannt wird.
 
 Wert wird nun vorgestellt als a) „Vermittlung des vermittlungslosen Antagonismus“. Die Übersetzung in eine verständliche Sprache könnte vielleicht lauten: Der Wert ist diejenige Qualität, die den gesellschaftlichen Zusammenhang privat-isolierter und zunächst gewaltsam in ein Gegensatzverhältnis von Besitzern/Nichtbesitzern von Produktionsmitteln gesetzter Menschen darstellt. Damit ist der Antagonismus aber nicht mehr vermittlungslos [6] und die Vermittlungslosigkeit nur noch Resultat der Bruhnschen Wortakrobatik. Auch die ohne jede Auseinandersetzung mit meinen Thesen auskommende Wiederholung der ewigen Litanei des Werts als unmittelbarem Allgemeinem kann darüber nicht hinwegtäuschen. Der Warentausch und seine ökonomischen wie rechtlichen Implikationen (Wert bzw. allgemeine Willensverhältnisse) können vielmehr als Vermittlungs- und Bewegungsformen des (nichtlogischen [7]) Widerspruchs der kapitalistischen Produktionsweise begriffen werden: Der rechtsförmige Tauschakt, in dem sich gleichberechtigte und freie Warenbesitzer gegenübertreten, löst das formationsspezifische Problem der Kombination von Produzenten und Produktionsmitteln wie Konsumtionsmitteln auf Basis ihrer Trennung und zwar in der Weise, dass durch die spezifische Form der Kombination diese Trennung beständig reproduziert wird.
 
 Wert ist nach Bruhns Konstruktion nun auch b) die Erscheinungsform des Reichtumsd.h. des Gebrauchswerts [8]. Dieser erscheine als sein Gegenteil weil er, als vermeintlich freie Aneignung von Überfluss, unter den angegebenen Bedingungen die Gestalt „einseitiger Aneignung“, des Ausschlusses aller durch alle vom Genuss des Reichtums, annehme – die Warenform. Wenn Bruhn damit lediglich sagen wollte, dass zwischen Bedürfnis und Gegenstand das Geld (als empirische Erscheinungsform des Werts) trete, wäre dagegen nichts einzuwenden. Er will damit aber seine beiden abenteuerlichen Behauptungen einer Identität logisch sich ausschließender Bestimmungen sowie der Identität normativer und deskriptiver Kategorien stützen. Dazu versteigt er sich zu einer Habermasschen ‚Werttheorie’, die bereits 1981 zu berichten wusste, der Tauschwert sei bei Marx die Erscheinungsform des Gebrauchswerts [9]. Er versteht ‚Erscheinung’ in der Marxschen Wendung „erscheint als ungeheure Warensammlung“ analog zum, ebenfalls falsch verstandenen, Wertausdruck: So wie dieser, als Repräsentation des gesellschaftlichen Zusammenhangs unter privat-antagonistischen Bedingungen (Wert) in der Gebrauchswertgestalt einer anderen Ware, bereits theologisch als logisch widersinnige Vermischung von Besonderem und Allgemeinem, Gesellschaftlichem und Ungesellschaftlichem vorgestellt wird (Bruhn wiederholt dies, aus Mangel an Argumenten, schlicht), so „erscheint“ der stoffliche Reichtum „in der Form seines geraden Gegenteils, als Ware“. Auch hier soll es wieder erklärtermaßen „theologisch und religiös“ oder auch realmetaphysisch zugehen. In der Tat sind solche Sätze wie der folgende bar jeden Sinns, eine Übung in Jargon der Dialektik: „Weshalb er [der Gebrauchswert] sich auch mit sich selbst nicht als ein [...] Identisches bescheiden kann, sondern sich sein eigenes Unwesen in der Gestalt des Tauschwertes entgegenstellt, damit es, das Unwesen, in dieser fremden Gestalt: dem Tauschwert, als seinem Wesen zur Erscheinung und Darstellung kommt. Der Gebrauchswert ist gar nicht der Gebrauchswert“  (Bruhn 2003).
 
 Marx meint aber in seinem ersten Satz keine Inkarnation (auch umgekehrt keine gespenstische Verflüchtigung eines Konkreten zu einem Abstrakten), sondern lediglich den Augenschein, dass „jedermann weiß, wenn er auch sonst nichts weiß“ [10], dass nützliche Gegenstände im Kapitalismus als Waren gehandelt werden. Dieser Satz ist eine erste Hinführung zum Gegenstand, die keinerlei theoretischen Status als Erklärung beansprucht. Dieser Augenschein beinhaltet noch keinen wertformanalytisch qualifizierten Erscheinungsbegriff, der den begriffenen Zusammenhang von Wert und Tauschwert charakterisiert und ein Repräsentationsverhältnis bezeichnet. Hingegen repräsentiert der Wert/Tauschwert keineswegs den Gebrauchswert/Reichtum. Die Ware, die Marx anschließend als „Elementarform“ an den Anfang der Untersuchung stellt, ist auch keineswegs, wie empiristische Interpreten (z.B. Haug 1989) unterstellen, eine im Schaufenster liegende, denn sie hat keinen Preis! Sie ist eine theoretische Abstraktion, mittels derer zunächst weiter auf den Wert abstrahiert wird, von dem aus dann die preisbestimmte Ware und das Geld als Formen des Werts (=der Austauschbarkeit) rational erklärt werden (vgl. Wolf 2003). Der im Wert „selbstnegatorisch“ erscheinende Gebrauchswert soll nun zu allem Überfluss damit auch noch „als in sich nichtswürdig erwiesen“ sein, „d.h. als ‚faule Existenz’ (Hegel)“. Wie eine solche Tatsache überhaupt möglich sein soll, die „ihre eigene ‚Wertung’ gleich schon selbst“ enthalten kann, darüber wüsste man von Joachim Bruhn gerne ein wenig mehr. Stattdessen wird man, wie üblich im Jargon der (Pseudo-)Dialektik, mit einem Hegel-Zitat („faule Existenz“) abgespeist.
 
 Es soll gar nicht geleugnet werden, dass es bei Marx auch einen normativen Reichtumsbegriff gibt. [11] Dieser steht aber nicht am Anfang des Begründungszusammenhanges der Kritik der politischen Ökonomie. Marx sieht die Produktivkraftentwicklung innerhalb des Kapitalismus als Bedingung der Möglichkeit freier Vergesellschaftung an. Dies bedeutet: Der kapitalistische Reichtum impliziert keineswegs ‚an sich’ das Prinzip kommunistischer Aneignung. Dieses Prinzip ist als normativer Maßstab aber mit der faktischen Entwicklung insofern vermittelt, als dass Marx in den durch sie eröffneten Möglichkeiten die materiellen „Bildungselemente einer neuen [...] Gesellschaft“ (MEW 23, S. 526) entdeckt. D.h. dass Marx’ normativer Maßstab nicht bloß Luftschlösser baut, sondern durch die (nichtnormative) Untersuchung der Dynamik des Kapitalismus als prinzipiell realisierbar ausgewiesen wird. Die Analyse weist aber nicht die höhere Vernünftigkeit des Maßstabs selbst aus und schreibt keine Handlungsziele vor; sie macht Aussagen über Handlungsmöglichkeiten (z.B.: ‚es ist historisch möglich geworden, dass Güterüberfluss, Bildung und Muße nicht mehr nur für Wenige existieren’ [12]), weist somit „Brückenprinzipen“ (Albert 1991, S. 91f) zu ethischen Entscheidungen auf.
 
 Es müssten noch viele Fragen an Joachim Bruhns Text gestellt werden, z.B. wo er sein empiristisches Verständnis von ‚Ableitung’ her hat; warum er meint, es gebe keine Abstraktionsebenen im Kapital; wieso er einen Zirkellauf der Darstellung einem Nacheinander der Begriffe entgegenstellt u.v.m. Ich erspare den Lesern und mir das Weitere. Es bleibt zu konstatieren, dass Bruhn jede Bemühung um eine nachvollziehbare Argumentation hinsichtlich der Marxschen Ökonomiekritik als Akademismus und Rationalisierung abtut. Hier wird unter dem Vorwand der Akademismus- alias Reformismuskritik [13] lediglich ein innerintellektueller Konkurrenzkampf ausgetragen, der sich schon immer gerne des antiintellektuellen Ressentiments bediente [14]. Zu diesem Zweck konstruiert er einen Popanz namens „akademischer Marxismus“, unter den heterogenste Positionen subsumiert werden, vom Marktsozialismuskonzept Ralf Krämers bis hin zu Michael Heinrichs radikaler Wertkritik. Solch mangelndes Unterscheidungsvermögen ist keine gute Grundlage für eine Position, die sich „Kritik“ nennt. Bruhns Behauptung einer objektiven Präskriptivität der Reichtumsformen (sie gebieten demnach ‚an sich’ ihre Aufhebung, es liegt nicht an uns, sie zu wollen oder nicht zu wollen), sein Rekurs auf ein frühsozialistisches „Naturrecht“, ist weder mit Marx kompatibel noch trägt es irgendetwas zur Erkenntnis des Kapitalismus bei. Er ist auch nicht nötig, um das System als ganzes abzulehnen oder um am Prinzip ‚Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen’ als Ziel einer befreiten Menschheit festzuhalten.
 
 II.
 
 
Auch der Redaktion Prodomo scheint es letztlich nur auf die richtige Einstellung anzukommen. Anders ist m.E. die Immunisierungsstrategie nicht zu erklären, Thesen, die sich auf das Verständnis Marxscher Texte beziehen, als Philologismus abzuqualifizieren, wenn einem das Ergebnis nicht passt, sich aber sonst in der Tradition der Ökonomiekritik zu wähnen und zu monieren, Marx und Adorno werde die Metaphysik ausgetrieben [15].
 
 Zunächst behauptet die Redaktion, ich führte die Kategorie des ‚dialektischen Widerspruchs’ ein, indem ich diese „einfach mit der Widerspruchsauffassung Hegels gleichsetz[e]“. Das ist ein Missverständnis. Ich mache gerade auf die Tatsache aufmerksam, dass das Dialektik-Verständnis davon abhängt, in welcher Weise Zusammenhänge/Einheitsdimensionen unterschiedener oder gegensätzlicher Momente konzipiert werden. In der Marxschen Dialektik, so meine These, wird dies geleistet, ohne eine irrationale Vermischung der Extreme einer Widerspruchskonstellation, wie z.B. Freiheit/Unfreiheit, Gebrauchswert/Wert, vorzunehmen. Dabei weise ich auf Andreas Arndt und Dieter Wolf hin, die beide in dieser Weise die Differenz zwischen Marxschem und Hegelschem Widerspruchskonzept herausarbeiten. Nebenbei ist zu bemerken, dass gerade Wolf eine detaillierte Nachzeichnung der Differenz der (von der Redaktion allein angeführten) frühen Marxschen Kritik an Hegels Widerspruchsbegriff zur im Kapital vorfindlichen bietet: Während für Marx offenbar 1843 noch das Vermittlungskonzept in dem mystischen Hegels aufging, macht er 1867 ein nichtidentitätsphilosophisches Vermittlungskonzept zur Analyse der Reichtumsformen des Kapitalismus fruchtbar. (Vgl. Wolf 2002, Teil 5)
 
 Apropos Reichtumsformen: Die Redaktion fragt mich, „wie ein sich selbst reproduzierender Gegenstand zu denken sein soll“. Antwort: Unter diesem ‚Gegenstand’ verstehe ich das ‚Objekt’ der Gesellschaftstheorie, das einen durch Arbeitsprodukte vermittelten Handlungszusammenhang von Menschen unter bestimmten privat-arbeitsteiligen Vergesellschaftungsbedingungen ihrer Arbeiten (Strukturen) darstellt. Dieser Zusammenhang ist derart beschaffen (durch tauschvermittelte Aneignung), dass er seine eigenen Voraussetzungen, die nicht ursprünglich von ihm geschaffen wurden (Trennung der unmittelbaren Produzenten von ihren Produktionsmitteln), als Resultate beständig wieder hervorbringt. Dies ist ein wesentlicher Gegenstand der Analyse im Kapital. „Paradoxal“ kann man das nur finden, wenn man den problematischen Gestus an den Tag legt, in jeder Formulierung Mystisches, Unerklärliches, Dunkles zu entdecken. Dazu passt die Meinung der Redaktion, „dass es nicht der Kritiker ist, der für die Unverständlichkeit verantwortlich ist, sondern der Gegenstand“. Diese ganz und gar gegenaufklärerische Haltung, die nur noch den vernunftlosen Glauben an das von bestimmten Theoretikern Verlautbarte übrig lässt, ist in dem von mir verwendeten Feuerbach-Zitat und seiner Charakterisierung der christlichen Theologie gut erfasst worden. Daher ist auch meine Charakterisierung bestimmter Äußerungen der Marx-Lektüre als theologisch keineswegs polemisch gemeint.
 
 Die Redaktion behauptet: „Dass ein ‚gesellschaftliches Verhältnis der Sachen“, also der Wertweder gedanklich nachvollziehbar noch empirisch beobachtbar ist, ist für Elbe Quatsch. ‚Nur denkbar’ sei der Wert, doch wie man sich das vorzustellen hat, bleibt sein Geheimnis“. Wie es vorstellbar sei, etwas nur Denkbares zu denken, muss in der Tat ein Rätsel bleiben. Aber es geht noch weiter. Tatsächlich meint die Redaktion wohl allen Ernstes, der Wert sei nicht empirisch beobachtbar und deshalb (!) auch nicht begrifflich rekonstruierbar. Mir wird nun zugestanden, die Konstitution des Werts im Austauschprozess (gerade war ich noch Produktivist, der Wert vermeintlich nur im Produktionsprozess konstituiert denken könne [16]) „nachzuerzählen“ und mit Marx seine logische Notwendigkeit aufzeigen zu können [17]. Damit sei der Wert aber noch nicht gedacht. Dies sei schlechterdings nicht möglich, weil er im Verständnis der Redaktion ein „Verhältnis an sich – also unbestimmt“ sei. Der Wert sei buchstäblich „Nichts, Abstraktion von aller Bestimmtheit“. Warum soll er das sein? Weil er eine Abstraktion und ein Verhältnis ist, ist er auch zugleich Verhältnis ‚an sich’ und Abstraktion ‚von allem’? Dieser ganz eigentümliche Schluss ist, folgt man der (von Philipp Lenhard in einem anderen Artikel mittels simplem Analogieschluss auf den Warentausch reduzierten) Logik [18], ungültig. Das Argument ist zudem inhaltlich falsch. Wert wird in meinem Artikel bestimmt als historisch-spezifisches gesellschaftliches Verhältnis von Arbeitsprodukten, die in ihrer Eigenschaft als bloße Produkte menschlicher Arbeit im Tausch aufeinander bezogen werden. Abstrahiert wird also nicht von allem, wie man sieht. Und das Verhältnis ist keines ‚an sich’, sondern ein inhaltlich bestimmbares, spezifisches.
 
 Des Weiteren wird mir vorgeworfen, „Marx’ Methode als Abbildtheorie (‚Rekonstruktion’!) zu kennzeichnen“. Was kennzeichnet der Meinung der Redaktion zufolge eine Abbildtheorie? Ich spreche keineswegs, wie prominente Vertreter der Abbildtheorie, davon, die wissenschaftliche Erfassung der Realität des Kapitalismus sei eine „Photographie“, ein „Abdruck“ im Kopfe der Menschen, die sich durch eine Auffassung der Welt „wie sie ist, ohne fremde Zutat“ (Lenin/Engels) einstelle. Daher benutze ich den Begriff der Re-Konstruktion und zwar einer, die mit begrifflichen, erfahrungstranszendenten Mitteln arbeiten muss, um nicht unmittelbar erfassbare Eigenschaften der Realität zu erkennen. Wenn der Begriff der Rekonstruktion der Reichtumsformen bereits Abbildtheorie sein soll, dann sollte sich die Redaktion Gedanken über mögliche ‚postmoderne’ oder genauer fiktionalistische Tendenzen in ihren Reihen machen. Dagegen ist es natürlich der Anspruch kritischer Theorie, die Wirklichkeit der kapitalistischen Produktionsweise zu erkennen. Das ist aber weder Empirismus noch Abbildtheorie. Auch der umgekehrte Vorwurf ist unzutreffend: Meine Rede von Hinsichten, nach denen die Ware zu analysieren sei, ist kein postmoderner Anspruch, denn Hinsichten sind Eigenschaften, die den Untersuchungsobjekten zukommen und die der Theoretiker unterscheiden muss, wenn er diese Eigenschaften nicht unzulässig vermischen will.
 
 Ein anderer, über alle Maßen bemühter Topos ist der, einer analytischen Trennung von Formanalyse und Ideologiekritik vorzuwerfen, diese bedeute eine empiristische oder kritiklose Haltung. Was ich hier der Meinung der Redaktion zufolge „fröhlich“ trenne, sind zunächst einmal zwei Gegenstands-Ebenen: Wenn Marx die Komponententheorie des Werts (die Behauptung, Kapital, Arbeit und Boden seien Quellen des Werts) referiert, dann bezeichnet er die Theorie der politischen Ökonomie, wenn er von abstrakter Arbeit, Wert, Mehrwert usw. spricht, dann bezeichnet er außertheoretisch vorhandene soziale Verhältnisse, zu deren Erfassung die Ökonomen nicht vordringen. Kritik des Systems der politischen Ökonomie durch dessen Darstellung bedeutet eine Verbindung beider Ebenen: Marx analysiert positiv die Realität der Reichtumsformen und zeigt damit zugleich, warum diese Formen als historisch-spezifische verkannt werden. Was die Genese der Theorie von Marx betrifft, so ist natürlich eine theoriefreie Beobachtung niemals die Quelle seiner Kapitalismusanalyse, weil es einfach keine theoriefreie Beobachtung gibt. Für diese Einsicht benötigt man allerdings ebenfalls nicht im Geringsten das dunkle Theorieprogramm der kritischen Mystiker. [19]


 
 Anmerkungen:
 
 [1] Ich erspare mir das mühevolle Geschäft, zu ergründen, warum jemand wie Bruhn im Kontext seiner Polemiken ständig vom „vernichten“ seiner Gegner schwadroniert, ja, einen „Krieg“ gegen jene eröffnen will, die vermeintlich „geistig nicht ganz mitkomm[en]“. Ich erspare mir auch eine Erörterung des Hinweises der Redaktion Prodomo, ich hätte mit Hans Albert einen ehemaligen Wehrmachtsleutnant als Gewährsmann gewählt oder Bruhns Hinweis auf den „Frauenmörder“ Althusser. Ebenso unsinnig wäre es, die Staatskritik Johannes Agnolis mit einem Hinweis auf dessen ehemalige Mitgliedschaft in einem faschistischen Jugendverband erledigen zu wollen. Aber das nur am Rande.
 
 [2] So z.B. in seiner „Antithese“ zur Veranstaltung in Freiburg, siehe das aktuelle Programm der jour fixe der Freiburger ISF.
 
 [3] Wer es wissen will, mag bei Bader u.a. 1975, S. 89 und Wolf 2003, S. 42 nachlesen.
 
 [4] Gewaltsame Aneignung der Produktionsmittel wird ihm zur „Spaltung der Gattung ohne jede Zutat“, zur „logischen Urszene“ usf.
 
 [5] Ich lasse die absurde Behauptung außer acht, warum es unerklärlich sein soll, dass diese Trennung geschehen ist. Bruhn meint jedenfalls: „Warum es dazu gekommen ist, ist an sich selbst unverständlich, historisch und logisch“. Unter einem gutdeutschakademischen „an sich selbst“ tut er’s jedenfalls nicht!
 
 [6] Er war es allerdings auch in vorkapitalistischen Zeiten nicht, denn auch Gewalt ist eine Form der Vermittlung, worauf u.a. Wolf (2002, S. 436ff.) und Postone (2003, S. 89) aufmerksam machen.
 
 [7] Der Widerspruch, der z.B. durch die Bestimmungen Eigentümer-Nichteigentümer an Produktionsmitteln gesetzt ist, ist kein logischer, der besagen würde, dass die Nichteigentümer zugleich und in derselben Hinsicht Eigentümer der Produktionsmittel wären.
 
 [8] Zwar meint Bruhn, mit Gebrauchswert sei bei Marx eine bereits zum stofflich indifferenten Träger des Werts „verkommene“ Kategorie gemeint, doch Marx spricht von ihm als „stoffliche[m] Inhalt des Reichtums, welches immer seine gesellschaftliche Form sei“ (MEW 23, S. 50, Hervorhebung IE), den Marx an anderer Stelle auch explizit mit Gebrauchsgegenständen überhaupt identifiziert (vgl. MEGA II/6, S. 23).
 
 [9] Vgl. Habermas 1992, S. 477: „Marx analysiert die Doppelform der Ware als Gebrauchs- und Tauschwert und die Umwandlung ihrer Naturalform in die Wertform mit Hilfe des Hegelschen Begriffs der Abstraktion, wobei sich Gebrauchs- und Tauschwert wie Wesen und Erscheinung zueinander verhalten“.
 
 [10] MEW 23, S. 62: Hier wiederholt Marx den Einstieg bei der Alltagswahrnehmung, diesmal aber in bezug auf das Wissen darum, dass es Geld gibt, ohne das Wissen darum, was Geld ist.
 
 [11] Vgl. die Erörterungen über das Reich der Freiheit in Kapital, Bd. 3 (MEW 25, S. 828) sowie über verfügbare Zeit als Maßstab des Reichtums im Kommunismus in den Grundrissen (MEW 42, S. 601ff).
 
 [12] Vgl. MEW 42, S. 601: „Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört, Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes“.
 
 [13] Vorwand, weil ja auch revolutionäre Positionen darunter subsumiert werden. Wenn bei den betreffenden Theoretikern kein Reformismus zu finden ist, wird ihnen einfach einer angedichtet, so im Falle Heinrichs, dem Bruhn vorwirft, „konsequent [...] in linkskeynesianischen Perspektiven“ zu verharren und keine Politikkritik zu betreiben (Bruhn 2003).
 
 [14] So spricht sich Bruhn gegen „Argumentaufhäufler“ aus. Es ist aber zu fragen, was an Argumenten schlecht sein soll, außer vielleicht der Tatsache, ihnen nichts entgegensetzen zu können. Auch in der Bahamas wird gerne mal gegen „Argumentenritter“ polemisiert oder der ‚zersetzende Intellekt’ angeprangert. Ein Beispiel: „Lesekreise gleichen ausgelagerten Uniseminaren, deren Teilnehmer ihren Verstand interesselos in leeren Bahnen kreisen lassen, hin und wieder beliebige Themen streifend, die sie in akademischer Differenziertheit solange zerreden, bis alle Essenz verschüttet ist“ (ADK 2001). Während hier bereits jede Diskussion, die sich nicht dem stalinistischen Motto ‚Keine theoretische Diskussion ohne praktische Ergebnisse’ beugt, abgelehnt wird, tut Bruhn so, als stehe es um den außerakademischen Marxismus einen Deut besser als um den akademischen und als seien Texte wie Wolfgang Pohrts Theorie des Gebrauchswerts oder Moishe Postones Nationalsozialismus und Antisemitismus, von Adornos Negativer Dialektik ganz zu schweigen, keine Produkte akademischer Tätigkeit, als sei es eine moralische Auszeichnung, ohne Einkommen, unter ständiger Existenzangst, oder mit einem hirntötenden Vollzeitjob ausgestattet zu sein und Gesellschaftskritik als subakademisches Hobby betreiben zu müssen. Zum linken Antiintellektualismus generell vgl. Haug 2004.
 
 [15] „Elbe hat hier Recht damit, dass Marx dieses Problem als Scheinwiderspruch betrachtet hat. Aber es geht ja auch nicht darum, was Marx meinte oder glaubte, sondern wie der Kapitalismus angemessen zu bestimmen ist. Marx ist dabei die größte Hilfe, aber eine bloße Exegese muss Marxologen vorbehalten bleiben, denen es um was auch immer, jedenfalls nicht um Kritik geht“. Also, wenn man nachgewiesen bekommt, dass das, was man vorhin noch als Marx’ Position ausgegeben hat, eine Fehlinterpretation der Marxschen Aussagen ist, ist der Kritiker ein blasser Philologe oder Marxologe. Und wenn man was (vermeintlich) Passendes bei Marx findet, ist das okay, man kann sich in der Tradition der Ökonomiekritik wähnen und dem Kritiker wird vorgeworfen, „Marx und Adorno die Metaphysik aus[zu]treiben“ zu wollen. Die Vorwürfe der Abbildtheorie und des Philologismus werden dabei so beliebig eingesetzt, wie man sich beliebig auf den Marxschen Text bezieht. Das ist ‚postmodern’.
 
 [16] Die Redaktion unterstellt mir den Satz: „In Wahrheit sei das ‚Kapital als in der Produktion (…) konstituiert zu betrachten’. Elbe stellt sich also auf den Standpunkt des Arbeiterbewegungsmarxisten, der die Arbeit als die wahre Macht der Gesellschaft begreift“. Wenn die Redaktion meine Aussage vollständig zitiert hätte, dann hätte sie sich ihren Kampf gegen arbeiterbewegungsmarxistische Windmühlen sparen können. Er lautet nämlich: „Kapital als in der Produktion, vermittelt über die Zirkulation konstituiert zu betrachten“. Richtig ist der Hinweis darauf, dass Wert erst im Austausch real entsteht. Falsch ist es aber, die Produktions-Zirkulations-Antinomie mit der „Paradoxie“ in Verbindung zu bringen, Wert sei aufgehäufte abstrakte Arbeit, die nur im Austausch abstrakt werde. Hier wird die Dimension der Wertqualität, die ausschließlich durch Rekurs auf den Austauschprozess zu begreifen ist, mit der der Quantität des Werts durcheinandergeworfen, zu deren Erfassung ein Rekurs auf gesellschaftliche Durchschnittsarbeit erforderlich ist. Allerdings steht die Debatte bezüglich des genauen Verhältnisses von Quantität und Qualität des Werts erst am Anfang (vgl. Wolf 2006), weshalb die Fragen der Redaktion ihre Berechtigung haben.
 
 [17] Diese Einsicht hat die Redaktion Joachim Bruhn voraus, für den die Beweisführung im ersten Abschnitt des Kapital, die die Möglichkeit der Kommensurabilität von Waren zeigt, eine „bloße Definition“ darstellt.
 
 [18] Nur nebenbei noch ein Hinweis: Bereits Aristoteles hat im vierten Buch der Metaphysik eine transzendentale Begründung des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch formuliert: Etwas aussagen heißt demzufolge immer etwas zu verstehen geben. Etwas zu verstehen geben bedeutet etwas Bestimmtes mitteilen. Etwas Bestimmtes mitteilen wiederum kann man nur, wenn ein Prädikat nicht zugleich sein Gegenteil bedeutet. Vgl. ausführlich dazu Tugendhat/Wolf 2004, S. 50-65.
 
 [19] Auf die Erfahrungstranszendenz sowohl von Gesetzesaussagen als auch singulären Sätzen macht sehr klar der Kritische Rationalismus aufmerksam, vgl. Keuth 2000, S. 5f, 104ff., 112ff.


 
 Literatur:
 
 Antideutsche Kommunisten Berlin (ADK), Fragmente in Regression. Linke Selbstauflösung zwischen Theorie und Praxis, in: Bahamas Nr. 36/2001, S. 57f.
 
 Albert, Hans, Traktat über kritische Vernunft [1968], 5. Auflage, Tübingen 1991.
 
 Bader, Veit Michael/Ganßmann, Heiner u.a., Krise und Kapitalismus bei Marx, Bd.1, Frankfurt/M. 1975.
 
 Bruhn, Joachim, Adornos Messer. Wie die linken Intellektuellen mit der marxschen Kritik der politischen Ökonomie umspringen, auf: . (2003).
 
 Bruhn, Joachim, Studentenfutter. Über die Transformation der materialistischen Kritik in akademischen Marxismus. Antwort auf Ingo Elbe, in: Prodomo Nr. 6/2007, S.
 
 Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns [1981], 1. Bd., 3. Aufl., Frankfurt/M. 1992.
 
 Haug, Wolfgang Fritz, Vorlesungen zur Einführung ins „Kapital“ [1974], 5. Aufl., Berlin-Hamburg 1989.
 
 Haug, Wolfgang Fritz, Intellektuellenfeindschaft, in: ders. (Hg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Hamburg 2004, Sp. 1296-1307.
 
 Hobbes, Thomas Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates [engl. 1651], 9. Aufl., Frankfurt/M. 1999.
 
 Keuth, Herbert, Die Philosophie Karl Poppers, Tübingen 2000.
 
 Marx, Karl, Das Kapital. Kritik der politische Ökonomie, Bd. 1, MEW 23, Berlin 1969.
 
 Marx, Karl, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42, Berlin 1983.
 
 Postone, Moishe, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg 2003.
 
 Redaktion Prodomo, Alles klar?! Eine Replik auf Ingo Elbe, in: Prodomo Nr. 5/2007.
 
 Tugendhat, Ernst/Wolf, Ursula, Logisch-semantische Propädeutik [1983], Stuttgart 2004.
 
 Wolf, Dieter, Der dialektische Widerspruch im Kapital. Ein Beitrag zur Marxschen Werttheorie, Hamburg 2002.
 
 Wolf, Dieter, Abstraktionen in der ökonomisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit und in der diese Wirklichkeit darstellenden Kritik der politischen Ökonomie, auf: http://www.rote-ruhr-uni.com/texte/wolf_abstraktion.pdf (2003).
 
 Wolf, Dieter, Quantität und Qualität des Werts, auf: http://www.rote-ruhr-uni.com/texte/wolf_qualitaet.shtml (2006).

 

Ausgabe 6

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