Susan Buck-Morss ist Professorin für Politikwissenschaft an der City University of New York und gilt als Expertin für die Frankfurter Schule im Allgemeinen sowie Benjamin und Adorno im Speziellen. Ihre Bücher Hegel und Haiti und Dialektik des Sehens: Walter Benjamin und das Passagen-Werk liegen in deutscher Übersetzung vor. Außerdem ist sie als Mitwirkende an den Gesammelten Schriften Adornos im Suhrkamp-Verlag aufgeführt. Ihr 2003 erschienenes Buch Thinking Past Terror: Islamism and Critical Theory on the Left ist zwar weder aktuell noch wurde es ins Deutsche übersetzt 1; es liest sich aber dennoch wie ein Blueprint gegenwärtiger linker Meinungen hierzulande und darf grundsätzlich als ein Versuch verstanden werden, der seit einigen Jahren auch in der Linken angekommenen Einsicht zu begegnen, dass Regimes wie das iranische nicht einfach zu verteidigen sind, - ohne dabei jedoch allzu viele liebgewonnene Positionen oder gar den radical chic über Bord werfen zu müssen. Slavoj Zizek würdigt diesen Beitrag zur Selbsterhaltung wider besseren Wissens in einem enthusiastischen Kommentar, der auf dem Buchrücken werbewirksam zitiert wird: „If this book is not allowed to explode in political debates, the contemporary Left can close the store and erase itself as a relevant political agent.“
Dabei ist die Kernthese simpel und altbekannt: Eine friedenswillige Multitude auf der ganzen Welt ist Spielball klar identifizierbarer, deshalb aber nicht weniger dunkler Mächte, die immer neue Zyklen von Terror und Gegenterror initiieren. Als Entwicklerin komplexer Gedanken ist Buck-Morss eine Pauschalisierung wie „die Mächtigen“ aber selbstverständlich zuwider. So seien zwar auch islamische Regierungen nicht immer Engel, jedoch reagierten sie in erster Linie auf den Terror der USA und Israels (etwa S. 106) und seien Opfer eines Imperialismus, der nicht nur Waffengewalt, sondern auch „Wall Street und Hollywood“ (S. 33) auffahre, um eine Kultur zu unterdrücken, die einen ganz eigenen Beitrag zur neuen Weltöffentlichkeit leisten könnte, nämlich „im Namen des Islam kollektiv die terroristischen Aktionen von Staaten herauszufordern: Israelischer Staatsterror gegen die Palästinenser oder US-Staatsterror gegen irakische Zivilisten“ (S. 28).
Die Unterdrückung von Seiten der islamischen Machthaber erscheint dagegen läppisch, teilweise gar unfreiwillig zielführend. So zeige die niedere Stellung der Frau in islamischen Gesellschaften in erster Linie, dass die Machthaber deren soziale und politische Relevanz anerkennen – andernfalls würden sie es schließlich nicht für nötig befinden, sie ruhig zu stellen (S. 12). Dennoch sei die Freiheit und körperliche Unversehrtheit von Intellektuellen und Aktivisten in islamischen Ländern noch nicht in vollem Maße garantiert (S. 10); dieser Befund bedeutet jedoch nicht, dass Buck-Morss mehr Freiheit fordert, denn eine solche Selbstverständlichkeit wäre schließlich eines linken Intellektuellen viel zu banal. In erster Linie, so Buck-Morss, gehe es um Würde. Und die heiße im Falle der unterdrückten Wüstenkinder, frei zu sein von westlichen Freiheitsvorstellungen (S. 46). Soviel Dialektik gelingt nicht jedem: Wahre Freiheit als Freiheit von der Freiheit. Jeder Tag, an dem Homosexuelle an Kränen baumeln, ist ihr somit ein für „Freiheit“ und Würde gewonnener. Er verschafft der gebildeten muslimischen Tochter weitere Zeit, ihre männlichen Verwandten den „wahren“ Islam zu lehren – etwa durch Aufklärung über die Gewohnheit des Propheten, gelegentlich im Haushalt mit anzupacken (S. 48) – und damit eine Kettenreaktion auszulösen, an deren Ende sich die islamische Gesellschaft auf ihrer eigenen Grundlage verändere. Nur so könne sie dann dem Westen einmal selbstbewusst als alternatives Modell gegenübertreten.
Bis es jedoch soweit ist, begnügt sich die Autorin auch mit Teilerfolgen wie dem Tragen der Burka als Widerstand gegen die kulturindustrielle Verwertung des weiblichen Körpers (ebd.). Und einen guten, in der Tat lehrreichen, Vorschlag – vorgetragen ohne koloniale Herrschaftsansprüche, in vollem Bewusstsein ihrer Hautfarbe und privilegierten Situation – hat sie auch parat: Der geneigte Islamist solle doch einmal das Programm der westlichen Anti-Globalisierungsbewegung studieren. Dies sei der derzeit authentischste politische Ausdruck islamischer Prinzipien (S. 11-12).
So unbefriedigend die Situation im Orient jedoch auch sein möge – nichts gegen das, was in den USA geschehe: Seit 9/11 zeigten diese sich im Inneren als eine Art Wiedergänger der stalinistischen Sowjetunion (S. 31). Durch die Aufrechterhaltung eines universellen Gefühls der Bedrohung sei es den Machthabern gelungen, das Land in einen permanenten Ausnahmezustand – die heimische Ausprägung der „Bushwelt“ (S. 87) – zu versetzen und Meinungen, die nicht der gesellschaftlich vorherrschenden entsprechen, widerspruchslos zu unterdrücken. Buck-Morss imaginiert sich offensichtlich bereits mit einem Fuß im Folterkeller. Dies hält sie und ihre Mitdissidenten – genannt werden unter anderen Noam Chomsky und Edward Said – jedoch nicht davon ab, ihre Mission weiter zu verfolgen: Um nichts weniger als einen performativen Akt gehe es, die Schaffung einer globalen öffentlichen Sphäre durch deren Ansprache. Dieser herrschaftsfreie Diskursraum im Sinne Habermas’ (S. 131) soll der „radikalen, kosmopolitischen Linken“ ein Zuhause werden (S. 107).
Im Kleineren durfte Buck-Morss bereits selbst Zeugin der Konstituierung eines solchen Raumes werden. Als direkt nach den Anschlägen des elften September freiwillige Helfer in den Trümmern des World Trade Center nach Überlebenden suchten, erblickte sie die „bunte Multitude der New Yorker“, die sich zu einer wahren Gesellschaft zusammengeschlossen hätten (S. 25). Zu verdanken sei dies Mohammed Atta und seinen Komplizen gewesen, welche „mit brillianter Brutalität“ (S. 34) nicht nur die Türme des WTC, sondern auch den „master signifier“ (S. 24) Amerikas – eine imaginierte Unschuld am Zustand der Welt – zerstört hätten. Die direkte Schuld der USA an Tod und Elend durch das Irak-Embargo oder die Unterstützung Israels trotz dessen „kolonialistischer Unterdrückung“ der Palästinenser (ebd.) sei nun nicht mehr zu leugnen gewesen. Die so Erweckten hätten sich zusammengeschlossen, um sich endlich gegenseitig und selbstlos zu helfen.
Wem hier vor lauter Verdorbenheit noch nicht der Kopf schwirrt, für den hält die Autorin noch ein Lehrstück postmodernen Denkens bereit (S. 7). Im Anschluss an Talal Assad rekurriert sie auf Benjamins „Aufgabe des Übersetzers“ und wagt die Analogie: Wie eine gelungene Übersetzung der Zielsprache Elemente der Ausgangssprache hinzufüge, die sich im Prozess selbst verändere, so sei es im Spätsommer 2001 die Stimme der Unterdrückten gewesen, die sich in der Gestalt entführter Flugzeuge in das westliche Bewusstsein gebohrt hatte. Dieser Beitrag zur Transformation der politischen Sprache war ihr offenbar ein paar Tausend Menschenleben wert – schließlich gehe es doch um die Überwindung „ungleicher globaler Machtverhältnisse“.
Doch auch anderswo schlummere ungenutztes Potential. Der zu schaffende Diskursraum erscheint ihr als ideale Mitmachmöglichkeit für Intellektuelle, die dem bewaffneten Kampf lieber fernbleiben. Islamistische und westliche Intellektuelle könnten sich so begegnen, gegenseitig ihr Denken befruchten und, sollte sich der Westen auch weiterhin als militärisch überlegen herausstellen, wenigstens auf diese Weise den Himmel auf Erden herbeiführen. Zur Illustration wagt sie ein Gedankenexperiment: Qutb und Adorno.
Ersterer habe einen ursprünglichen Islam im Sinn gehabt, der gerade als „Anderer“ (S. 98) außerhalb westlicher Diskurse für die Kritik des Westens fruchtbar sei; ein Islam, der spirituell sei, „während der Westen materialistisch ist; kommunitär, während der Westen egoistisch individuell ist; sozial gerecht, während der Westen gierig und konkurrenzbetont ist; moralisch diszipliniert, während der Westen nachlässig Libertinage betreibt.“ Was, fragt sie nun, wäre gewesen, hätte zu Qutbs Lebzeiten bereits eine „globale öffentliche Sphäre“ bestanden und wäre jener so in der Lage gewesen, mit Kritikern zusammenzuarbeiten, die Buck-Morss als Verbündete innerhalb westlicher Diskurse sieht: Horkheimer, Adorno und das Institut für Sozialforschung? Der „bloße Gedanke einer solchen Allianz“ aus immanenter und externer Kritik gegen die instrumentelle Vernunft (S. 99) lässt sie auf ungeahnte Möglichkeiten einer neuen globalen Linken schließen.
Derlei Erkenntnisse sind jedoch nicht alles, was man für seine knapp zehn Euro geboten bekommt: Als „critical theorist“ bewegt sich die Autorin zwar in erster Linie in der „Theoriewelt“, wagt aber hin und wieder auch Ausflüge in die „Kunstwelt“ (S. 8), wo sie sich als Gelegenheitskuratorin einen wohl nicht allzu großen Ruf gemacht hat. Entsprechend ist Thinking Past Terror voller kleinerer Arbeiten, die der Autorin hauptsächlich als Ausrufezeichen dienen: So ist einer Bilderserie über urbane Zerstörung während des libanesischen Bürgerkrieges der Hinweis vorangestellt, dass damit deutlich werde, dass das Trümmerfeld nach 9/11 „weit entfernt von jeder Einzigartigkeit“ gewesen sei.
Mit Schutthaufen schließt dann auch das Buch. Nach vollen vier Seiten mit Bildern deutscher Trümmerfrauen aus dem Jahr 1945 gelangt der Leser zu einem Interview mit Buck-Morss, in dem sie ihr Selbstverständnis darlegt: Sie fühle sich in einem akademischen Sinne wie jene Trümmerfrauen, die nach der Niederlage einzelne Ziegelsteine sammelten, säuberten, und daraus neue Häuser errichteten (S. 127). Man möchte das Bild zu Ende denken und anfügen: um mit den Nazis, die selbstverständlich keine waren, darin zu leben.
Susan Buck-Morss, Thinking Past Terror. Islamism and Critical Theory on the Left , Verso: London – New York, NY 2003, 146 Seiten, $15,50.
Anmerkung:
Wenn im Folgenden auf Deutsch zitiert wird, handelt es sich um eigene Übersetzungen.
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