„Und so machte er das ihm anvertraute weite Reich, das mit Nebel bedeckt und sozusagen fast mit Blindheit geschlagen war, durch die diesem Barbarenlande vorher unbekannte neue Bestrahlung mit Wissen aller Art hell und sehend, da ihn Gott erleuchtete. Jetzt aber, wo die Studien in ihr Gegenteil zurücksinken, wird das Licht der Weisheit, das man weniger liebt, im allgemeinen immer seltener.“
Walahfrid Strabo über Karl den Großen 1
1. Erwachen heiterer Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande
Die älteste Sehnsucht des Menschen führt ihn dahin zurück, wo noch kein Bewusstsein war, wo keine Erinnerung mehr hin reicht. Ein wortloser Genuss beim Ausziehen der eng gewordenen Schuhe, wenn man kühles Gras oder warmen Sand mit den bloßen Sohlen spürt, ein kreatürlicher Schauder beim Schwimmen im See, die warme Sonne oder ein sanfter Wind auf der nackten Haut erwecken nicht nur das biographische Kind zum Leben, sondern auch den tausende Generationen alten, fast wortlosen Drang, der sicheren Feste und ihrem Frondienst zu entfliehen, durch Wiesen und Wälder zu schweifen, Pilze und Beeren zu sammeln, neue Lichtungen und Höhlen zu entdecken und dort einander sorglos-zeitlos zu lausen und zu begatten.
Die letzten zwei Tätigkeiten sind hier nicht nur humoristisch gewählt: die Freiheit herbeigeträumter Naturzustände ist von vor- und urmenschlichen Trieben beschwingt, längst zivilisierte, gezähmte, besiegte Bedürfnisse protestieren unerlöst und unversöhnt in den fernschweifenden Blicken von Wanderern, in den reptilhaft-kollektiven Menschenbrätereien touristischer Strände, in der freiwilligen Armut beim Urlaub auf rustikalen Ökobauernhöfen und bei solidarischen Arbeitseinsätzen, etwa in Nicaragua oder Chiapas.
Es ist dem natur- und landluftgeniessenden Stadtbürger freilich nicht möglich, die erworbene Geschichte und Kultur wirklich loszuwerden; der nostalgische 2 Genuss, z.B. eine alte Wasserpumpe zu bedienen oder einen Korb Kirschen zu pflücken, entsteht aus der Konfrontation des echten oder gefühlten Heimkehrers mit vergessenen Erfahrungen, welche der auf solchem kulturellen Stand Verbliebene oft nicht früh genug loswerden könnte.
Und was beim Zurückgebliebenen nicht selten ein zwar brutal-beschränktes, aber halbwegs stabiles Gleichgewicht von Gewalt und Tradition entwickelt hatte, kann beim aus der Stadt 'heimwärts' Drängenden vollends zur fatalen Wiederkehr der Gewaltakte werden, die aus Nomaden Bauern und aus diesen Proletarier machten. Statt des versonnenen Lausens, das man bei den äffischen Cousins im Zoo beobachten kann, oder auch der absurd-sinnvollen Dorftraditionen zum Gemeinschaftserhalt, gelangen Kulturflüchtlinge leicht zu einer miefigeren Hordenbildung, als sie noch so primitive Landbewohner je zustande bekämen. Moderne Menschen etablieren statt des gedankenlosen Geschlechtsverkehrs auf dem Pavianfelsen oder der deindividualisierenden Balzrituale rückständiger Gaue immer wieder rachelüsterne Konventikel der Enthemmung und gegenseitigen Erniedrigung, ganz gleich, ob sie sich nun als Ballermann, als Festival oder als Hippiekommune materialisieren.
Die von der Paläontologie ausgebrabenen Hekatomben eingeschlagener Menschenschädel der Steinzeit, das Wissen um die Idiotie des Landlebens, können den verklärten Schleier nicht lüften helfen, der sich über die Augen moderner Vertreter der Gattung legt, wenn sie einer mehr oder weniger natürlichen Umgebung mitsamt der ihr unmodernisiert Angepassten ansichtig werden. Ebensowenig vermochte es das Bild des biblischen Cherub mit dem zuckenden Flammenschwert, die Träume des Altertums aus dem vollkommenen, legendären Garten zu vertreiben, über den Adam und Eva als Königspaar der Schöpfung eingesetzt waren.
Es ist kein Wunder, dass Freiheits-, Gottes- und Glückssucher immer wieder dem quasi anthropologischen Urimpuls nachgaben und fern von der als verdorben und künstlich empfundenen Zivilisation in Wälder, Berge, Wüsten und Einöden zogen, die ungesellige Einsamkeit als Schamanen, Waldmenschen, Mönche, Abenteurer, Trapper, Räuber, Hippies, Guerrilleros, Ökotouristen und sonstwie mit der großen Stadt Verkrachte bevölkerten. Und da die Menschen dem allerersten Gebot gemäß fruchtbar waren und sich vermehrten, machten sie einander bald die letzten Winkel der Wildnis streitig, vertrieben einander bis zu den abgelegensten Inseln, jagten und verjagten einander bis in die verschlungensten Wälder und auf die höchsten Berge. Etwas davon lebt in der diffusen Verärgerung fort, wenn man auf einem heimeligen Waldpfad einem anderen Spaziergänger oder gar einem Jogger in seiner lächerlichen Sakralwäsche begegnet. Selbst in der deutsch-englischen Liegestuhlfehde an balearischen Pools zeigt sich die misanthropische Dimension der Suche nach der Idylle, und sei es nur die nach einem lauschigen Plätzchen in Nähe des All-You-Can-Eat-Buffets.
Höchste Verärgerung ist aber der Erkenntnis vorbehalten, dass die urigen Landbewohner die pflichtgemäße Zurückgebliebenheit schuldig bleiben und ihre unverdorbene Vormodernität von den Übeln der Stadtkultur haben affizieren lassen. Touristen, vornehmlich Deutsche, konstatieren oft verbittert, dass die traditionelle Gastfreundschaft und Originalität von Beduinen/Caprifischern/Sennern nunmehr reiner Geldmacherei gewichen, dass einst jungfräuliche, fast unbekannte Strände nunmehr von Betonklötzen und Abwasserrohren überbewuchert seien. Ein Yanonámi-Indianer in einem Coca-Cola-T-Shirt, eine Mongolenyurte mit Fernsehantenne oder sonst eine ästhetische Entweihung des Sehnsuchtsortes können sorgfältig geplante Pilgerfahrten zu den Quellen der tribalen Authentizität vermiesen.
Die Ur- und sonstigen Landeseinwohner haben ihren festen Platz am unteren Ende der ästhetischen Nahrungskette einzuhalten. Sie haben in pittoresker Primitivität zu verharren und dem Stadtflüchtling das Gefühl gerührter Überlegenheit zu vermitteln. Jeder Tourist ist ein kleiner Warenprüfer, der die präsentierten, begehbaren Postkarten auf das rechte Gleichgewicht von Wildheit, Putzigkeit und Unterlegenheit inspiziert, jede Reise in die lokale, nationale oder globale Provinz ist demnach eine mehr oder weniger deutliche Entfaltung des Anfangssatzes der „Dialektik der Aufklärung“, der besagt, dass „die vollends aufgeklärte Welt [...] in triumphalem Unheil [erstrahlt]“. Denn der misstrauisch untersuchende Blick des Touristen selbst kündet von diesem Unheil, entzaubert taxierend und Bewertungssterne verteilend die Welt, sei es der dicke Freier mit dem Hawaiihemd im thailändischen Puff oder sein rucksacktragender, rastafahrender Sohn zu Füssen eines dschungelversunkenen Steinbuddhas.
Die heutige touristische Misere wiederholt auf ihre Weise die Unterwerfung des Landlebens während der ursprünglichen Akkumulation; die entstandene Totalität der reellen Subsumption unters Kapitalverhältnis wiederum ist der Evolution der Herrschaft über die außer- und innermenschliche Natur entsprungen. In der sehnsüchtigen Frustration der Bürger über die Verhältnisse in der vermeintlichen Wildnis, über die demaskierte Hässlichkeit der Barbarei oder auch gleichermaßen der schnöden Entzauberung der Provinz, steckt nicht wenig vom musternden Blick des feudalen Herrschers auf die Leibeigenen seines Lehens, die ihn mit demütig gezogenen Hüten, vielleicht aber auch schon mit Fackeln und Mistgabeln erwarteten.
Die Herrschaft hatte vor allem zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters die Vernunft zum Verbündeten: Von unerbittlich logischer Kohärenz vorangetrieben und die weihrauchgeschwängerte Gravität auseinanderwehend kamen das die Willkür und die Traditionen beschneidende Gesetz, die Einteilung der Zeit, die Verbesserung der Produktion. Die Unterworfenen hatten das Vorurteil, die Faulheit und die Dummheit in ihrem Arsenal, sie wussten sich nicht wirklich zu wehren und boten vor allem den Widerstand einer fast animalischen Trägheit, der letztlich immer nur größere Entfaltungen der Macht provozierte. Hier lässt sich von der Austragung des Widerspruchs zwischen Gebrauchs- und Tauschwert reden, von einer tendenziellen Negation des zur Ware gewordenen konkreten Gegenstandes durch das Wertgesetz, die sich auch gegen die Warensubjekte richtet. Der dumpf bis bösartig sture Bauer, der sich nicht aus seinem Heidentum erlösen lassen will, sich später den Segnungen der Medizin, Mechanik und Betriebswirtschaft zu verweigern sucht, schließlich den ökologischen, soziologischen, pädagogischen Impulsen bis hin zur Selbstzerstörung misstraut, bleibt in der Rolle des kapriziösen Menschenmaterials, das sich seiner Verfeinerung und Veredelung entzieht. Das ist der Reiz, der von ihm ausgeht, im doppelten Sinn des Wortes von Irritation und Anregung.
Wie immer das Urteil des Touristen ausfällt, es wird ein bannendes sein. Der Provinzkaffer wird mal als wahrer Jakob, mal als Halbaffe angesehen werden, doch in diesem Urteil wird immer auch die Selbsttaxierung, die Verinnerlichung der zurichtenden Gewalt zum Ausdruck kommen, die den fertig Zivilisierten schuf.
Eine besondere und doch von einem Allgemeinen getragene Variante des Touristen ist die des politischen Besuchers, die fortschrittliche Exkursion, die immer schon den falschen Gegensatz zwischen Reform des Überholten und seiner integrierenden Reproduktion in sich trug. Ihre jüngste, postmodern inspirierte Gestalt würde sich empört gegen den Vorwurf der Eingeborenenpädagogik verwahren, und doch tritt das höchst Manipulative gerade in den critical-whiteness-inspirierten Workshops und Selbsthilfeprogrammen am deutlichsten vor Augen, weil in ihnen die anstehenden empowerments nur in der Selbstwahrnehmung als postkoloniale people of color vermittelt werden, also eine oberflächlich gewendete, reparationsfordernde, rassistische Definitionsmacht gepredigt wird.
Ob nun klassisch karitativ oder postmodern dialogisch, die intervenierende Reise zu den dankbaren Wilden knüpft an die alte Tradition des Missionars an, dessen Tätigkeit je nach persönlichem Geschick und Situation von der 'imperialistischen' Zerstörung der alten Kultstätten bis zur 'solidarischen' Sozialarbeit rangierte. Letzteres begann oft mit der Erforschung und Verschriftlichung der indigenen Sprachen, schritt fort, indem man die vorfindlichen Götter und Totems synkretistisch dem Heiligenkult bzw. der Dämonologie zuordnete und ging bis zur Errichtung experimenteller Indianerstaaten unter Jesuitenaufsicht.
Der Missionar wiederum ist der spirituelle Nachfahre des Abgesandten einer Großmacht, die ihre Fühler in neue Gebiete ausstreckt. Den Ursprung des bevollmächtigten Besuchers zu finden ist beinahe so unmöglich wie die Bestimmung des Anfangspunktes der Herrschaft von Menschen über Menschen.
Die christlichen Missionare, in Deutschland vor allem irische und englische Mönche, die ab dem VII. Jahrhundert das Evangelium den Germanen predigten, hatten einen dynamischen, die vorfindliche Trägheit und Verhärtung überwinden wollenden Zug von angenommener, äußerlicher Ohnmacht, die doch zur Vollmacht drängte. Ihre opferreichen Durchbrüche und frustrierenden Niederlagen, ihre fatale Mischung von tapferer Freiheitspredigt und heimtückischer Manipulation wiederholen sich noch in jeder Aufklärungskampagne, in jedem Nachvollzug der Moderne an unmündig vorzustellenden Objekten. So scheiterte Bonifatius bei seinen ersten, eher individuell-voluntaristisch zu nennenden Versuchen am massiven Widerstand des friesischen Herzogs Radbod, und zog daraus die Konsequenz, sich künftig eng an die Expansionspolitik der Franken und die geistliche Macht des Papstes anzubinden. Die späteren Missionen sind als große Expeditionen mit Heerestross, Handwerkerkontingent und fränkischem Schutzbrief vorzustellen, die an strategisch wichtigen Punkten wehrhafte Klöster gründeten.
Die Missionare waren immer auch Flüchtlinge vor der Verknöcherung ihrer eigenen Heilslehren in der monastischen Institution. Der Germanenevangelist entkam der niederdrückenden Konvention, die bereits christianisierte Gegenden erfasste, indem er in jedem Heiden das Abenteuer der Urkirche, den freien Wind des Geistes von neuem zu beleben versuchte. Ein Missionar ist immer angetrieben von der schleichenden Zersetzung seines Glaubens, und jede Bekehrung soll das in ihm selbst verrinnende Heil erfrischen. Die Gefahr, die von heimtückischen Sachsen und blutrünstigen Friesen ausging, wurde den Bonifatius' und Lamberts zur Bestätigung, dass sie keine bloßen Gottesnarren waren, sondern mit ihrem Leben an einem entscheidenden Punkt des kosmischen Kampfes zwischen Gott und Satan für das Gute einstanden. Sie wurden durch diesen Kampf erst gut, erlangten durch ihn erst ihre leuchtende Identität.
Dies trieb auch ihre säkularen Nachfahren an, wenngleich im bürgerlichen Zeitalter mit anderen Begriffen und um andere Fragen mit dem obstinaten Landvolk gekämpft wurde. Von Dorfärzten, Schullehrern, fortschrittlichen Geistlichen, Botanikern und Landvermessern ist eine Unzahl von einsamen Berichten aus den drei letzten Jahrhunderten auf uns gekommen, die den jeweiligen Stand der ländlichen Borniertheit und des mehr oder minder zähen Ringens um 'mehr Licht' bekunden. Dass dieses Licht sich in den Großstädten bereits als Irrlicht, als heilloser Fortschritt von Verwertung und Herrschaft zu erweisen begann, focht die tapferen Aufklärer angesichts der vor Ort herrschenden Primitivität, Gemeinheit und Unsauberkeit nicht an, der barbarische Kontrast war es, woraus die beharrliche Volkspädagogik ihre rechtfertigende Kraft bezog.
Die Alphabetisierungstrupps der Roten Armee z.B., die den russischen Bauern triumphierend den Fortschritt brachten, schafften mit einem Schlag die Geltung der frömmelnden und abergläubischen Volksreligion ab, den großäugig Versammelten wurde kurzerhand mittels einiger Karikaturen der reaktionäre Gottesglaube ausgetrieben. Pseudopragmatisch, wie die Bolschewisten aber waren, entfernten sie in den Stuben den sogenannten 'roten Winkel' nicht, also die nach Osten gelegene Ecke, in der die Muttergottesikonen 3 samt brennender Lampe gewöhnlich hingen. Sie beschlagnahmten vielmehr die Kunstwerke des 'schädlichen Obskurantismus' und schenkten den Bauern dafür das strahlende Porträt des schnurrbärtigen Antlitzes, das der Provinz neues Licht zu bringen behauptete und nun die Sonnenaufgangsseite russischer Bauernhäuser schmückte.
Ähnliches geschah während der Jakobinerherrschaft, in der anatolischen Provinz unter Atatürk, in Süditalien unter Mussolini, in der Reconstruction Era der Südstaaten nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg, überhaupt im amerikanischen Progressismus bis heute, in der Chinesischen Revolution, den arabisch-sozialistisch-modernistischen Experimenten von Mohammed Ali bis Bashir el-Assad, im Machtbereich der East India Company und den postkolonialen Staaten Indien und Pakistan, überhaupt bei den weniger mörderischen Aspekten der Kolonialgeschichte, im zunächst stark sozialistisch ausgerichteten zionistischen Staat gegenüber bösartigen Beduinen, aber auch obstinaten Shtetljuden, und, wie später als kleines Musterbeispiel dargelegt werden soll, in der Geschichte Preußens.
So verschieden die aufgezählten Beispiele sind und so potpourrihaft ihre (fast beliebig verlängerbare) Liste wirkt, ein gemeinsames Phänomen ist darin auszumachen, dass vernünftige oder vernunftbehauptende Herrschaft sich daran machte, das in unterschiedlichster Weise zurückbleibende Menschenmaterial kühn umzuformen und mehr oder weniger effektiv die aufzuhebende Beschränktheit nolens volens reproduzierte, ihr nach und nach unvermeidliche Konzessionen machte, identitäre Narrative reaktivierte und ihnen oft komplett unterlag. Wie entfeudalisiert sind heute schließlich, nach den großen Experimenten, etwa die Russen, wie laizistisch die Türken, wie aufgeklärt die Südstaatler und wie säkularisiert die Kibbuzniks? In jeweils sehr verschiedener Gestalt, als Kaleidoskop der Sonderwege, ist ein tendenzielles Scheitern des prometheischen Projektes der Aufklärung zu konstatieren, insoweit sie als Projekt definiert ist, „von den Menschen die Furcht zu nehmen“. 4
Umso begeisterter stürzen sich die heutigen Bastarde des ewig untergehenden Bürgertums auf jedes primitive Kontrastmittel, das ihnen die Heiligkeit der alten Mission neu vor Augen stellt: Jedes Mädchen, das vor der Genitalverstümmelung zu retten ist, lässt die schalgewordenen und glücklosen Begriffe von Emanzipation und Menschenrecht in neuem Glanz erstrahlen. So schlichtweg richtig es aber ist, alten Hexen die rostigen Rasierklingen aus der Hand zu schlagen, mit denen sie weibliche Lust zu ermorden suchen: Es ließe sich ein finsterer Spott der Geschichte, eine List des Weltungeistes darin erblicken, dass gerade die deutschen Hohepriester der permanenten Reformation - Linke, Linksliberale und auch Antideutsche - im Sommerloch 2012 nirgendwo anders hingeraten konnten als in eine etatistische Kampagne gegen den jüdischen Beschneidungsritus. Die mit alliierter Gewalt gezähmten Wilden finden mittels der ungeglätteten, immer noch jüdischen Juden ihren ideologischen Lebensborn, den Widerstand, der erst ihre funkelnden Lichtbögen herausfordert. Die identitäre Selbstverteidigung der jüdischen Vertreter trägt nur zur Verwirrung des Bildes bei, sie verwirklicht aufs Neue das Wort von den „blind Abwehrenden“. Was in Deutschland derzeit verhandelt wird, ist die vorläufige Integration der Juden als deutscherseits exakt definierte community, wobei Letztere daran fleißig mitarbeitet, den jüdischen Status rechtsverbindlich festzulegen und der deutschen Staatsräson unterzuordnen. Wenn aber einmal etabliert ist, dass der Rechtsnachfolger des Dritten Reichs bestimmt, wer Jude ist, kann weiterer, später anstehender Handlungsbedarf in Zusatzklauseln die neuen Parameter des erlaubten Judeseins nach Belieben und Volkes Willen verändern.
Die furchtbar demokratische Repression durch die Gleichen ist ein überbietender Nachvollzug des eigenen Verschwindens hinter die bzw. Verschmelzens mit der Charaktermaske anhand der hoffnungs- und schutzlos Nichtidentischen; die gesamte Beschneidungsdebatte dreht sich - sei es nun noch so aufklärerisch gut oder Stürmer-artig bös gemeint - um das Verschwindenmachen der Juden, konzentriert auf ihr Fleisch, fixiert an ihr Geschlecht, exorziert an ihrem Leib. Der gesellschaftliche Fortschritt hat wie zuvor der christliche Glaube mittlerweile genug historische Gelegenheiten gehabt, die Juden zu retten, also das spezifisch 'Jüdische' an ihnen zu negieren, alles an ihnen zu entfernen, das sich unterscheidet, um so mit bester Absicht das Nicht-Aufhebbare an ihnen freizulegen. 5 An exakt diesem Punkt setzen die Antisemiten das unvollendete Erlösungswerk der Philosemiten fort. Wie wäre es nun, die Juden mal für eine Weile mit missionarischen Umarmungen in Ruhe zu lassen und beispielsweise an Marx' Forderung nach der Menschwerdung der Deutschen zu arbeiten? Hier gäbe es doch zahllose Atavismen zu entdecken, archaische Rituale, wohin das Auge sieht, darunter nicht zuletzt die gemeinschaftsstiftende Markierung der Volksfeinde, die nicht mitmachen können, dürfen oder wollen. Durch die kritische Verhandlung des Juden, präziser: seinem mehr oder weniger mit dem antisemitischen Konkretisierungswahn kongruenten Statthalter (von A wie Ackermann bis Z wie Zumwinkel, vom Papst bis schließlich - endlich - zum Mohel) wird man erst richtig zum Deutschen.
Die stets gutgemeinte und eben deshalb stets scheiternde Fürsorge der selbstvergessenen Zivilisatoren erweist sich wie unter einem Fluch immer wieder als nächste Stufe der Barbarei, die Pädagogik geht mit finsteren Absichten schwanger, die ihr selbst selten voll bewusst sind. Vor der kurzen Illustration im nächsten Kapitel sei noch einmal die „Dialektik der Aufklärung“ bemüht, sei an das allzugeläufige, so schlichte wie tiefe Wort vom in der Aufklärung wirksamen „rückläufigen Moment“ erinnert. Es bedarf nicht der tiefschöpfendsten Studien der Kritischen Theorie, um dies ansatzweise zu verstehen. Jeder noch so emanzipatorische Fortschritt verbessert die Herrschaft, jede Kritik, die nicht in der Negativität verharrt, kann von der materiellen Macht, also Ideologie, die die Massen ergriffen hat, aufgenommen, dem falschen Ganzen subsummiert und gegen den Menschen gekehrt werden.
Doch nun die kleine Illustration:
2. Szene am Bach
„Les villes sont le gouffre de l'espèce humaine.“ Jean-Jacques Rousseau 6
Marie-Antoinette, Erzherzogin von Österreich, Prinzessin von Ungarn, Böhmen und anderer Habsburger Lande, Gattin Ludwigs XVI. und Königin von Frankreich und Navarra, wurde ein prinzipiell ausgezeichneter Vorschlag an die hungernden Massen zugeschrieben, anstelle des fehlenden Brotes doch einfach Kuchen zu essen. „L'Autru-chienne“, also in etwa: „Austro-Schlampe“, oder „Madame Déficit“, wie sie von der aufstrebenden nationalen Bourgeoisie mindestens seit der Halsbandaffäre genannt wurde, büßte nicht nur dieses vermeintliche konditorische aperçu 7 mit dem Leben, sondern wurde formal vor allem aufgrund ihrer konterrevolutionären Konspirationen gegen die Republik guillotiniert. Ihr Aufenthalt am Hof von Versailles war von Intrigen und Affären geprägt gewesen, von bangen Schwangerschaften, die unbedingt einen männlichen Thronfolger zum Ergebnis haben mussten, und von einer müßigen Langeweile, die mittels penibel formalisierter Bälle und Empfänge, tagelanger Glücksspielrunden und Modeeinkäufe kaum durchbrochen wurde. Das Volk hasste in ihr sowohl die Aristokratin als auch die Ausländerin, das Bürgertum gab ihren kostspieligen Extravaganzen eine maßlos übertriebene Hauptschuld an der katastrophalen Haushaltslage, die Hofgesellschaft bespitzelte und unterminierte sie, und gutes Personal war wie immer rar. Es war also nicht leicht.
Um diesem aufreibenden Alltag einer absolutistischen Herrschaftsdarstellerin zu entkommen, schnappte sie sich gerne die Kinder, die sie ihrem Louis schließlich geboren hatte und zog sich mit ihnen in den Norden des Versailler Gartens zurück, wo ihr eine Ansammlung kleinerer Residenzen, Le petit Trianon genannt, übergeben und nach ihrem Geschmack ausgebaut worden war.
Prachtstück dieser Anlage und momentaner Aussichtspunkt dieses Artikels war Le hameau de la Reine, der 'Weiler der Königin', 1784 nach einer Fehlgeburt von ihr selbst in Angriff genommen. Es war ein unter Anleitung ihres Lieblingsarchitekten Richard Mique entworfenes, idealisiertes Bauerndorf, das eine Mühle, einen Stall, eine Molkerei und Käserei, einen Taubenschlag und diverse lustige Bauernhäuser in hübsch arrangierter Perspektive um einen blitzsauberen künstlichen See darbot. Die kleine Farm lieferte dem Frühstückstisch der Königin frische Landprodukte, ein eigens herbeigeschaffter Pächter samt putzig-rustikaler Familie bewirtschaftete sie. Es könnte sich bei Valy Bussard um den ersten subventionierten Bauern Europas gehandelt haben. Und angesichts dessen, was sich keine fünf Jahre nach seinem Einzug in Versailles in Frankreich ereignen sollte, von der strengen jakobinischen Zentraladministration der nationalen Ernte bis zum Guerrillakrieg in der bäuerlichen Vendée, den Getreidekonfiskationen, Maximalpreisen und den konterrevolutionären Kornspeicherverbrennungen im Lyonnais, ließe sich bei Monsieur Bussards Pacht der noch unbewusste Anfang einer skurrilen Dialektik von agrarischem Aufstand und präventiver Subventionierung erblicken, die nicht nur, aber insbesondere in Frankreich seitdem nicht mehr aufgehört hat. Die berüchtigten Traktorladungen Mist vor diversen Regierungssitzen sowie die erst ab 2007 von einer gesteigerten asiatischen Nachfrage abgebauten europäischen Butterberge und Milchseen sind späte Pendelschläge des letztlich immer noch von Gewalt geprägten Verhältnisses von Stadt und Land. Auch die gelegentlichen Schlagzeilen über von den Aufsichtsbehörden durchsuchte Massentierhaltungsanlagen wegen des Verdachts auf unzulässige Stoffe im Futter gehören in dieses antagonistische Bild, ebenso wie die sogenannten Genfeldbefreiungen und die tatsächlich brutalen Versuche Monsantos & Co., Produktionsmonopole und biologische Urheberrechte durchzusetzen. Die von nationalen Krisenstäben verfügten, rabiaten Massenkeulungen bei Epidemieverdacht und die entsprechenden dirty tricks der 'Fleischmafia', um wertlos oder brisant gewordene Produktion doch noch in den Verdauungstrakt überflüssiger Bevölkerung auszulagern, sind ebenfalls Aspekte des schwelenden, immer wieder aufflammenden Krieges zwischen 'Stadt' und 'Land'.
Die Anlage Marie Antoinettes wurde sorgsam instand gehalten. Umgeben von einem harmonisierte Natürlichkeit evozierenden englischen Garten, ein wenig dabei an Rousseaus Naturphilosophie gelehnt, war le hameau ein Urlaubsort vor der Haustür. Die Königin liebte es, unbeschwert in einem eigens hierzu entworfenen Musselin-Bauernkleid à la polonaise auf der Farm zu 'arbeiten', man sah sie Kärntner Volksweisen trällernd volle Milchtöpfe aus feinstem Sèvresporzellan umhertragen oder eine Sichel mit Perlmuttgriff an ein kleines Weizenfeld legen. Die erstklassigen Tiere im Stall, allesamt aus der Schweiz importiert, wurden täglich von der Dienerschaft gesäubert, um zu verhindern, dass etwa ein Kotfleck im Lammfell das königliche Auge beleidigte. Die Melkschemel waren wohl gepolstert, damit kein Splitter den fürstlichen Popo beim Milchmädchenspielen verletze.
Die extravagante Absurdität der melkenden Königin, gewissermaßen schon unter dem Schatten der Guillotine, enthält in absolutistischer Antizipation das Dilemma des bürgerlichen Umgangs mit der Natur. Einerseits liegt darin der kindlich-urmenschliche Impuls, die in- und auswendig Unterworfene sinnlich und doch eingehegt zu ihrem verspäteten Recht kommen zu lassen. Andererseits ist die wehmütige Zuwendung selbst bereits eine unheilbare Lüge, die die Gewalt verleugnet, die der Natur angetan wurde und wird. Marie-Antoinette würde heute gewiss den ökologischen Maximen ihres Berufskollegen Charles folgen, des arbeitslosen Prinzen von Wales, und ihr Trianon wäre angefüllt mit gentechnologiefreien, von indischen seed banks empfohlenen Pflanzen. Sonnenkollektoren und ein komplettes, nachhaltiges Wasseraufbereitungssystem kämen ebenso selbstverständlich hinzu wie eine untadelige, barriere-, sexismus-, rassismus-, homophobie- und islamophobiefreie Arbeitsethik für die dort Beschäftigten, vorzugsweise irgendwer Indigenes.
Madame Déficit könnte heute auch Inspiration in den beeindruckenden Umweltfeatures des Bundeskanzleramtes finden, dem größten Regierungshauptgebäude der Welt. Das postmoderne Ungetüm ist achtmal größer und ökologisch unendlich nachhaltiger als das Weiße Haus in Washington D.C., es kann als die heizeffiziente Kaaba der deutschen Naturliebe angesehen werden. 8 Das vom Berliner Volksmund in bewusstloser Treffsicherheit 'Bundeswaschmaschine' getaufte Glashaus (einen Steinwurf vom Reichstag entfernt) dient als monumentaler Ausweis absolvierter Ökohausaufgaben und bietet einen vorzüglichen Hintergrund, um der Konkurrenz in Übersee stirnrunzelnde Vorhaltungen bezüglich des Kyoto-Protokolls zu machen. Das Land der permanenten Reformation lässt sich auf dem Feld der Entsorgung von niemandem überholen: Die vorbildliche Nachhaltigkeit des Bundeskanzleramtes korrespondiert perfekt mit der vorbildlichen Vergangenheitsbewältigung am unweit von Frau Merkels Büro liegenden Holocaust-Denkmal und bekundet in alle Welt die unnachahmliche Gründlichkeit der deutschen Gewissenserforschung. Wenn die Deutschen moralische Kehrwoche machen, kann man hinterher vom Boden essen. Die Delegationen der Amerikaner sollen angesichts der titanischen Reinigungsanlage über ihre öltriefende Energiepolitik vor Scham vergehen, Franzosen, Engländer und andere Hilfseuropäer vor Neid erbleichen, und Besucher aus der Dritten Welt sollen sich ein Beispiel nehmen und fleißig deutsche Zivilisationstechnologie bestellen.
Nichts lässt die Herzen müder Weißer so aufgehen wie ein von allen guten Geistern (von Oxfam über Karlheinz Böhm bis zur UNESCO) gesegnetes Projekt zur behutsamen und kultursensiblen Ertüchtigung dankbarer Schwarzhäute. Die ökonomisch verkommene und politisch verwahrloste Schar der Überflüssigen sehnt sich nach authentischer, organischer und doch sterilisierter Wildheit, nach zweifelsfreier Zugehörigkeit unter grösstmöglicher Flexibilität, nach identitärem und doch facebook-kompatiblem Lokalkolorit und chthonischer Vitalität, und die äußere wie die innere Natur wird ihnen gerade dann zur ideologischen Ressource, wo ihre Ausbeutung und Kommerzialisierung verhindert werden soll.
3. Lustiges Zusammensein der Dorfleute
„Die rationale Insel wird überschwemmt, und die Verzweifelten erscheinen einzig noch als die Verteidiger der Wahrheit, als die Erneuerer der Erde, die auch den letzten Winkel noch reformieren müssen. Alles Lebendige wird zum Material ihrer scheußlichen Pflicht, der keine Neigung mehr Eintrag tut. Die Tat wird wirklich autonomer Selbstzweck, sie bemäntelt ihre eigene Zwecklosigkeit.“
Max Horkheimer/Theodor W. Adorno 9
Ein keineswegs idyllisches, gewiss nicht rationales, doch in höchst unerfreulicher Weise lebendiges Dörflein der Altmark mit dem programmatischen Namen Insel hat sich für eine auf den ersten Blick erstaunliche Menge von äußerst verschiedenen Gruppen zum Austragungsort ihrer konträren Interessen entwickelt. Begonnen hat das Ganze mit dem Zuzug zweier Männer, die vor langer Zeit im Vollrausch mehrere Frauen vergewaltigten, nach Verbüßung ihrer Strafe zu lebenslanger Sicherungsverwahrung verurteilt worden waren und aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nunmehr auf freien Fuß gesetzt werden mussten. Ein befreundeter Tierarzt bot ihnen sein Haus im 450-Seelen-Dorf Insel an, und die beiden Schwaben zogen dort ein. Als ihre Vergangenheit unter den Dorfbewohnern durchsickerte, entstand schnell eine gefährliche Pogromstimmung; die Inseler schritten flugs von der Unterschriftenliste zur mistgabelbewehrten Mahnwache vor dem Haus der beiden Männer, ein Polizeiaufgebot musste einen Sturm auf das Gebäude sowie einen Brandanschlag vereiteln, und spätestens jetzt schlossen sich Neonazikameradschaften dem Treiben an, von vielen Dorfbewohnern hierbei ausdrücklich begrüßt. Die Landesregierung, durch eine populistische Kampagne der BILD-Zeitung und diverse Fernsehsendungen aufgeschreckt, entbot zunächst Polizisten, dann gewählte Volksvertreter, die zwar kostenloses Verständnis für die 'Ängste' der Dorfbewohner bekundeten, aber ihnen gegenüber die im Grundgesetz garantierte Freizügigkeit prinzipiell verteidigten. Als sich der auch vom örtlichen Bürgermeister - ein windiger Nachfahre Otto von Bismarcks - mitgeschürte Volkszorn daraufhin nicht zerstreute, kam es zu taktischen Hütchenspielen, die die in Not geratene Staatsräson in den Augen des Mobs weiter unterminierten: die beiden Männer unterschrieben Erklärungen, zum Wegzug aus Insel bereit zu sein. Als wiederum diese Option wegen der - man verzeihe mir einen ausnahmsweise passenden Adjektiv des Jargons - unverantwortlich fortgesetzten BILD-Kampagne ebenfalls scheiterte und klar wurde, dass hier jeder jeden langfristig am Hals hatte - das Dorf die Männer, die Männer den Mob, die Staatsräson das Dorf, das Ganze die Nazis - trat ein noch ideellerer ideeller Gesamtkapitalist in Gestalt gesellschaftlich fortschrittlicher Kräfte auf den Plan: ein heterogenes Gemisch von linksliberalen Jungpolitikern, institutionalisierten Antifas, DDR-Bürgerrechtlern und last but not least Antideutschen begann, Interesse für diesen deutschen Mikrokosmos zu zeigen, an dem der professionelle Staatsbetrieb sich die Zähne auszubeißen schien.
Selten ist so viel politische Energie auf die Umerziehung einer so kleinen Gruppe konzentriert worden. Das obstinate Dorf sah sich in ein Wechselbad von zärtlichsten Appellen und krassesten Drohungen getaucht: mal kamen Busladungen von Parlamentariern und ihren beflissenen Praktikanten, die zum erweiterten Lehrgang Staatsbürgerkunde antraten und mit Engelszungen für grundgesetzliche Prinzipien warben, mal erschien ein opferwilliger, Runder-Tisch-erprobter lutherischer Pfarrer und ließ sich niederschreien, mal wurde im durchsichtigen Gewand polemischer Ironie die Vernichtung des Ortes gefordert. „Insel fluten!“ drohte und dröhnte es aus dem antideutschen Aufruf wie mächtige Motoren alliierter Bombergeschwader, die einst auf dem Weg nach Dresden diese Felder der Altmark überschatteten.
In Miniatur wurde an diesem Stückchen Provinz eines der ältesten Dilemmata der Menschheitsgeschichte im Allgemeinen und der deutschen Geschichte im Besonderen verhandelt. Die Überwindung der Barbarei, des engen, kollektiven Miefs, dessen, was im Dorf in seine bösartig-paranoide Phase trat, wurde mit allen erdenklichen Instrumenten in Angriff genommen. Und doch drohte selbst die ideologiekritische Position komplett in den gemeinsamen Etatismus hineinzugeraten, der Dörfler, Nazis, besorgte Staatsdiener, linke und linksliberale Aktivisten umklammert hielt. Im Wunsch, einen radikaleren, einen allerradikalsten Schritt in der Formulierung der allgemeinen Kritik der Dorfgemeinschaft weiterzugehen, verfiel man in einen unüberhörbaren Herrschaftston, der ein ohnmachtsbewusstes Echo der praktischen Kritik der Alliierten am historischen deutschen Verfolgerkollektiv sein wollte und doch vom feudalen Verhältnis landesherrlicher Obrigkeiten zur unzivilisierten Untertanenbevölkerung widerhallte.
Die Engelszungen, mit denen von GOs und NGOs auf solche rückständigen Horden eingeredet wird, all diese missionarische Volkspädagogik kündigt schon in ihrer freundlichen Erwachsenenstimme das Ende der Geduld an, das verständnisvolle Zuckerbrot lässt die Peitsche ahnen, zu der sich vorauseilend die Antideutschen in Insel machten, trotz ihrer eiligen Beteuerung, sich dabei ihrer Ohnmacht bewusst zu sein. Das Lippenbekenntnis half jedoch nur zu verhüllen, dass sie sich unter Kühen, Schweinen und Ossis aus der „unverbrüchlichen Einsamkeit“ 10 davonstehlen wollten, indem sie sich ohne Not zu militanten Kräften des Innenministeriums aufplusterten. Insel war nämlich keine Gelegenheit, die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen nachträglich zu verhindern, es gab keinen opportunen Polizeirückzug vor dem Mob, keine echten Einverständnissignale der Mächtigen, keine schwelende Gesetzesinitiative zur rechtlosen Internierung von Sexualstraftätern.
In den Aussagen, Schutzbehauptungen und Freudschen Fehlleistungen der sich so verlassen wie bedrängt wähnenden Inselbewohner war neben der sexualhysterischen Straflust auch deutlich das Ressentiment unterworfener Bevölkerung gegen 'Stendal', 'Berlin' und 'Brüssel' zu hören. Ihr zwischen Weinerlichkeit und Gewaltdrohung schwankender Protest war preußisch, deutsch, germanisch-depressiv. Die steifen Marionetten, zu denen die Menschen in Gedanken, Worten und Taten werden, sahen sich in Insel zunächst mit dem plötzlichen Desinteresse ihrer verhasst-vertrauten Puppenspieler konfrontiert, als sie ihr per se nicht sogleich wahnwitzig zu nennendes Unbehagen bekundeten, gleich zwei pathologische Gewaltverbrecher in ihrer Mitte aufnehmen zu müssen. Solche trotz aller objektiven Gründe verdächtig kostengünstigen Lösungen in einem ansonsten gerne allgegenwärtigen Staat haben mancherorts ihre von der populistischen Presse prompt hochgespielten Katastrophen bereits gezeitigt. Es bestand seitens der untherapiert Entlassenen ein objektiv erhöhtes Risiko, das durch die paranoiden Reflexe der Dorfgemeinschaft zwar verzerrt, aber nicht widerlegt wird. Die Eilfertigkeit wiederum, mit der Leute, die neben diesen Restrisiken nicht Tür an Tür leben müssen, die komplette Harmlosigkeit der Männer beteuerten, kam mit einem sehr prinzipiellen, staatsräsonellen Liberalismus daher, der hochherzig Menschenrechtsansprachen an die unsympathischen, aber plötzlich gar nicht so dumm wirkenden Dörfler richtete. Dieser Sankt-Florians-Liberalismus entschlug sich unter Anrufung abstrakter Rechtsgüter recht leicht der konkreten Verlegenheit darüber, wie es nun sein kann, dass die von der zuständigen Justiz sotto voce 11 eingestandenen Risiken der sogenannten Resozialisierung 12 der beiden Männer ausgerechnet in das provinzielle Kaff abgewälzt wurden - so jedenfalls die infantile, unmittelbare Empfindung der staatliche Gängelei immer schon gewohnten und -bedürftigen Einwohner - während ähnliche Fälle in weniger strukturschwachen Gebieten oft einen ganzen Apparat von Sozialarbeitern, Therapeuten und Polizisten beschäftigen. Der auf beiden Ufern der Elbe mit zutiefst falscher Ironie 'Vater' genannte Staat scheint hier seinen hinterwäldlerischen Untertanen nonverbal mitgeteilt zu haben, welchen Wert sie in seinen Augen wirklich haben. So sieht es zumindest für die Inseler aus, obwohl kein Amt und kein Gericht die heikle Unterbringung anordnete. Es ist dennoch der Kern der Empörung in Insel, dass der Ort sich nicht als Töpfchen, sondern als Kröpfchen erweist, wo brisanter Gesellschaftsüberschuss landet. Die Zufälligkeit, gar die Nichtzuständigkeit der Ämter, die zur Entstehung des dem Staat nun wütend vorgeworfenen Ärgernisses beitrugen, verschärften die Schmach, anstatt sie zu mildern. Und der formaljuristischen Unschuld des Staates, der juristisch zwingenden Argumentation steht zumindest die moralische Belastung gegenüber, dass die beiden Männer auch Produkte des staatlichen Strafvollzugs sind, dass die Sicherungsverwahrung vom EGMR nicht zuletzt deshalb für illegal erklärt wurde, weil jahrelang und ebenfalls verdächtig kostengünstig versäumt wurde, diese einer dringenden Gefahrenabwehr geschuldete Schutzmaßnahme vom 'Strafcharakter' zu bereinigen, den die erfolgte Verbüßung des eigentlichen Strafurteils verbietet. Die Straflust der Deutschen ist ihnen in Insel in doppelter Hinsicht auf die Füße gefallen. Gerhard Schröder hatte einst mit seiner vulgären, populistischen Wortmeldung, jenem „Wegschließen, und zwar für immer“, den maßlosen Hass des Kollektivs aus- und angesprochen, was dem Basta-Kanzler vielleicht sogar einige Stimmen derer einbrachte, die seine Kehrtwende von der „bedingungslosen Solidarität“ mit den USA weniger goutierten. Dieses als Todesstrafenersatz äußerst durchsichtige „Wegschließen“ - schließlich hätte dem wahlkämpfenden Populisten ein 'Einschließen' vollauf genügt, um als tough on crime erscheinen zu können - war kein Lapsus, kein reines Fischen nach dem Zuprosten der Stammtische, sondern eine Faser des roten Fadens, der den Leviathan mit seinen ungeliebten 'Mitgliedern' in Insel und anderswo verbindet. Schröder folgte der ethischen Linie des alten Gewohnheitsverbrechergesetzes vom November 1933 - das von den Nationalsozialisten dann 1941 von der Sicherungsverwahrung zur reinen Todesstrafe verschärft wurde. Die Apologeten des Rechtsstaates, die am Aufklärungsfeldzug in der Altmark teilnahmen, empörten sich über den intoleranten Egoismus der Inseler, während sie geflissentlich verschwiegen, dass die Verletzung des Abstandsgebots, d.h. die strenge Unterscheidung zum Regelvollzug, vom Staat sträflich (pun intended) versäumt wurde und das Staat wie Untertanen gemeinsame 'aus den Augen, aus dem Sinn' bei der Aufführung der Provinzposse Pate stand.
Der Dorfmob wurde eher oberflächlich von der Sorge um die Unversehrtheit der Einwohnerinnen bewegt, man war vielmehr ob der objektiv von 'niemandem' gewünschten Degradierung zu einem für rechtsstaatliche Kollateralschäden genügend wertlosen Gebiet gekränkt. Die Antideutschen, die ihre tiefe, interessierte Verachtung für das 'Scheiß-Drecksnest' Insel bekundeten, trafen nicht nur den empfindlichsten Nerv der Dörfler, sondern auch die unausgesprochenen Gedanken 'Stendals', 'Berlins' und 'Brüssels' über die sprichwörtlichen „Menschen draußen im Lande“. Eine ideologiekritische Gruppe wie No Tears for Krauts verwandelte sich, vom verständlichen Wunsch angetrieben, keine interventionistischen Linken oder Volksversteher zu werden, streckenweise 13 in einen antideutschen Krautjunker, der dem Pack mit der Reitgerte über den gekrümmten Rücken fahren möchte. Nicht, dass der allzu frech gewordene Pöbel so manche Züchtigung nicht verdient hätte, aber um Joachim Bruhns treffendes Begriffspaar aufzugreifen, gibt es dem Pöbel gegenüber keine Adeligen oder Bourgeois mehr, die dieser Charaktermaskenbezeichnung entsprechen, sondern nur noch Gesindel, das wie die tuschelnde, intrigierende und Tafelsilber stehlende Dienerschaft eines längst umnachteten Gutsbesitzers noch sorgsam die unhaltbar gewordene Trennlinie zwischen sich und den trunksüchtigen Stallknechten und Fuhrleuten hütet. Diese panische Distinktion steckt klanglich und ideologisch in Feuilletons, Fernsehrunden, Blogeinträgen und oft eben auch ideologiekritischen Flugblättern, die sich mit den scheußlichen Lastern des gemeinen Volkes beschäftigen.
4. Gewitter und Sturm
'Da kommt es schon. Ich kenne das. Immer dasselbe. Darin ändern die Zeiten nichts. Und vielleicht ist es auch recht gut so. Denn worauf es ankommt, meine liebe junge Frau, das ist das Kämpfen. Man muss ringen mit dem natürlichen Menschen. Und wenn man sich dann so unter hat und beinah' schreien möchte, weil's weh tut, dann jubeln die lieben Engel!'
'Ach, gnädigste Frau, es ist oft recht schwer.'
'Freilich ist es schwer. Aber je schwerer, desto besser. Darüber müssen Sie sich freuen. Das mit dem Fleisch, das bleibt, und ich habe Enkel und Enkelinnen, da seh' ich es jeden Tag. Aber im Glauben sich unterkriegen, meine liebe Frau, darauf kommt es an, das ist das Wahre. Das hat uns unser alter Martin Luther zur Erkenntnis gebracht, der Gottesmann. Kennen Sie seine Tischreden?'
'Nein, gnädigste Frau.'
'Die werde ich Ihnen schicken.'
Theodor Fontane 14
Die frühesten sächsischen und wendischen Vorfahren der Inseler und ihrer Region, der Altmark, westlichster Teil der alten preußischen Kurmark, hatten Zivilisation immer nur als Invasion erfahren. Schon bei der blutigen Christianisierung der Sachsen durch Karl den Großen ergibt sich ein Unterschied zur westlicheren Ausbreitung des Christentums, das sich - gewiss auch nicht nur friedlich - als spätantike und frühmittelalterliche Staatsreligion von 'unten' wie von 'oben' her durchsetzte. Die zahlreichen Sachsenschlächtereien und Slawenkreuzzüge fränkischer Ritter östlich der Elbe 15 hingegen korrespondieren mit Freuds Theorie, dass es sich bei „alle[n] diese[n] Völker[n], die sich heute im Judenhaß hervortun“, d.h. die in Mittel- und Osteuropa, um „schlecht getaufte Heiden“ handele, die von der Zivilisierung vor allem die hierzu eingesetzte Gewalt verinnerlicht hätten, aber nie zur komplexeren, westlichen Vergesellschaftung gelangt seien. 16 Dies prägte auch den späteren Konvertiteneifer der schließlich christianisierten Sachsen. Die deutsche Entwicklung setzte sich gerade in der ostelbischen Sorgenregion intensiviert fort, als der nordeuropäische, allfällige Aufstand des frühen Bürgertums gegen die römisch-katholische Fremdbestimmung in Gestalt absolutistischer, protestantischer Kurfürsten und der entsprechenden staatsgläubigen Theologie Martin Luthers auftrat.
Der in Deutschland von einem sächsischen Mönch verkündete, im Schutz territorialer Potentaten etablierte Protestantismus legte die wichtigsten Investituren der westeuropäischen Trennung zwischen der zeitlichen und der ewigen Herrschaft insofern ab, als die lutherischen Prediger von Anfang an auf den Staat eingeschworene Beamte waren. So erklärt sich die extreme Aggressivität Luthers gegen Wiedertäufer und aufständische Bauern, die den Gedanken der „Freiheit eines Christenmenschen“ allzu wortwörtlich genommen und lauter kleine, die nationale Autonomie gefährlich fortspinnende Republiken und Guerrillabewegungen gegründet hatten.
Nach dem 30jährigen Krieg entstand mitten im ohnehin nicht sehr dicht bevölkerten und nun entsiedelten, von Schweden und anderen Kriegsparteien verwüsteten Gebiet ein preußischer, protestantischer Staat, der schon zuvor einen eigentümlichen Kolonialcharakter gehabt hatte, da er als Mark vom Kaiser dem fränkischen Geschlecht der Hohenzollern überantwortet worden war. Durch das XVII. und XVIII. Jahrhundert hindurch wurden nach den Plänen der Hohenzollern Sümpfe trocken- und Deiche angelegt, gezielt Einwohner an- und umgesiedelt, Wälder und Kanäle geschaffen. Die preußischen Herrscher waren in viel weiterem Maße als ihre west- und süddeutschen Vettern in der Lage, ihre Bevölkerung wie weichen Ton zu kneten, da das Land als Grenzgebiet zu den Slawen immer schon unter Vorrang militärischer Erwägungen aufgebaut worden war und die Untertanen nun von dort, woher der traditionell-reaktionäre Widerstand zu erwarten gewesen wäre, nämlich der Geistlichkeit und den unruhigeren Unterströmungen des Volksglaubens, nichts als lutherische Staatsaffirmation, protestantischen Obrigkeitsglauben vernahmen.
Anstelle der diffizilen Verhandlungen, verbürgten Rücksichten und auch handfesten Kämpfe zwischen Kirche und Staat, die z.B. das Bewusstsein rheinländischer oder bayerischer Subjekte prägten, setzte sich im alten Preußen vor allem die Erfahrung von Überwältigung, Alternativlosigkeit und gelegentlichen, opportunistischen Aufständen weiter fort. Die Subjekte lebten unterm Bann des mit der Kirche verschmolzenen Staates, und selbst ihr seltenes Aufbegehren war frei von jener anarchistischen Unterströmung, die beispielsweise Bauernaufstände im orthodoxen Russland oder im katholischen Spanien prägte.
Die kapitalistische Produktion in Preußen setzte lange vor Bismarck als Staatsinitiative ein. Der preußische Staat war nicht das politische Resultat einer ethnischen Konstituierung - schließlich ist sein Name der eines untergegangenen, von den Deutschrittern um die erste Jahrtausendwende ausgerotteten baltischen Stammes (Pruzzen), der mit den Wellen deutscher Siedler, flämischer Handwerker und Salzburg- und Hugenottenflüchtlinge kaum zu tun hatte. Deutsch wurde erst 1876 als offizielle Amtssprache im von Polen, Kaschuben, Litauern mitbewohnten Staat etabliert. Seine in den märkischen Sand gesetzte Hauptstadt Berlin ist mehr Ergebnis eines herrschaftlichen Willensaktes als des Bevölkerungszuwachses durch Verkehrslage und Handelswege. Die Geschichte Berlins und auch der alten Mark Brandenburg ist eine von Stadtplanung, Reißbrett, Kaserne und Subvention, was zwar auch eine wesentliche Rolle bei der Entstehung anderer europäischer Hauptstädte spielte, aber in Berlin bis heute den bestimmenden Charakter der ewigen Baustelle beibehalten hat. Die preußischen Städte Brandenburgs haben ebenfalls einen quasi 'amerikanisch' anmutenden Zug, sie sind bewusste Urbarmachungsgründungen, militär- und ökostrategisch gewählte, moderne Siedlungen - dem widerspricht nicht, dass sie oft noch einen alten wendischen Ortsnamen oder einen fränkischen Kern haben. Die preußische Kurmark ist eine der am intensivsten von Menschenhand geprägten Kulturlandschaften Europas.
Die Bevölkerung, ob altsächsisch, brandenburgisch oder in späteren Phasen hinzugezogen, ist hier immer besonders bewachtes, intensiver als anderswo kultiviertes Menschenmaterial gewesen, uniformiertes variables Kapital; der höhere Wille des eigentümlich fragilen und verwundbaren Staates hat das Bewusstsein dieses Volkes, seiner Intellektuellen und Herrschenden tief geprägt. Nicht zufällig brachte diese Nation die glänzenden, aber auch schon im etatistisch-systematischen Nachvollzug der entstehenden Totalität gefährlich funkelnden Staatsdenker Fichte, Schelling, Schleiermacher, Arndt und Herder hervor.
Es ist seit den Kriegszügen Karls des Großen immer ein Gesetz von der Trägheit der Volksmasse in der Region wirksam gewesen, ein stetes Zurückbleiben der unterworfenen Bevölkerung hinter die ideologischen Absichten ihrer Herrscher und deren Hofintellektuelle. Einhard, der fromme zeitgenössische Biograph Kaiser Karls, bringt den scheel musternden, absichtsvollen und misstrauischen Herrscherblick zum Ausdruck, der sich in jedem heutigen Nachdenken über Ostdeutschland früher oder später zeigt:
Einen langwierigeren, erbitterteren und mühevolleren Krieg führte das Frankenvolk nie; denn die Sachsen sind wie fast alle Deutschland bewohnenden Volksstämme von Natur wild, dem Götzendienst ergeben und gegen unsre Religion feindselig und halten es nicht für unehrenhaft, göttliches oder menschliches Recht zu schänden oder zu übertreten.17
Manchmal waren sie so gebändigt und zermürbt, dass sie gelobten, dem Götzendienst zu entsagen und die christliche Religion anzunehmen. Aber wie sie manchmal willens waren, dies zu tun, so waren sie doch stets allzu geneigt, alles wieder umzustoßen, so dass man kaum sagen kann, wozu in Wirklichkeit eine größere Geneigtheit bei ihnen vorlag; denn seit Beginn des Krieges mit ihnen verging ja kaum ein Jahr, wo nicht ein solcher Umschwung bei ihnen stattgefunden hätte. Allein der hohe Sinn des Königs und seine im Unglück wie im Glück sich gleichbleibende Standhaftigkeit konnte durch ihre Wankelmütigkeit weder gebeugt noch von dem einmal begonnenen Vorhaben abgebracht werden. Denn niemals ließ er sie bei derlei Beginnen ohne Strafe durchkommen, sondern nahm für ihre Treulosigkeit durch ein entweder von ihm geführtes oder unter der Führung seiner Grafen entsandtes Heer Rache und verlangte von ihnen eine gebührende Sühne.18
So und nicht anders klappt es mit den Sachsen. Und es übertrug sich auf alle späteren Untertanen, die unter katholische, lutherische, calvinistische, pietistische, friderizianische, bismarcksche, weimarer, nationalsozialistische, sozialistische und schließlich demokratische Herrschaft hinzukamen.
Die schon erwähnte Schwäche Preußens, die Empfindung dieses Staates, militärisch verwundbar, ökonomisch nachholbedürftig, politisch reformbedürftig zu sein, hat seit dem XVII. Jahrhundert immer wieder zur zentralistischen, dirigistischen, etatistischen Konzentration geführt, zur Theologisierung des Staatsrechts und zur Kasernierung der Gesellschaft. Die Textilindustrie z.B. wurde vom preußischen Staat nicht nur geschützt und gefördert, wie es in England der Fall war, sondern regelrecht planmäßig aufgebaut. Preußen griff die dirigistischen Ideen des Finanzministers Ludwigs XIV., Jean-Baptiste Colbert, radikal auf, wobei das preußische Primat auf der Entwicklung eines verhältnismäßig riesigen, stehenden Heeres lag und die industrielle Infrastruktur an den Vorgaben des 1655 geschaffenen Generalkommissariats emporwuchs 19 Kapitalisierung und Militarisierung wurden administrativ angetrieben und merkantilistisch gesteuert.
Der Charakter des ganzen Staates mitsamt seiner Aristokratie wurde stärker als im Westen als der eines gewaltigen Dienstes angesehen, dem sich nach und nach auch die hartnäckigsten Junker und die lutherische Orthodoxie beugen mussten. Letztere sah sich in dem Moment, wo sie aufgrund der schieren theologischen Verknöcherung einen etwaigen reaktionären Widerstand gegen den Fortschritt der Herrschaft hätte aufbieten können, vom Calvinismus des Herrscherhauses und vor allem von der pietistischen Massenbewegung unterminiert. Es entstand ein Wetteifern der verschiedenen Protestantismen um die Gunst des Staates, ein konkurrierendes politisches Sichnützlichmachen, das direkt in die Konstitution der preußischen Arbeitsgesellschaft, ihrer Religion und Staatsphilosophie einfloss. Der puritanisch inspirierte Pietismus Speners und Franckes war eine krisenhafte Glaubenserweckung, die im Namen eines selbstlosen Urchristentums die autoritäre Demokratisierung der Deutschen Ideologie betrieb und massiv vom Königshaus gefördert wurde. Die Anhänger trafen sich in unzähligen Konventikeln (Hauskreisen), hoben weitgehender als die Lutheraner die Trennung von Sakralem und Profanem auf. Sie warben für die Verwirklichung von Luthers Forderung nach dem allgemeinen Priestertum aller Gläubigen, und sie arbeiteten emsig an einer umfassenden Reform des ganzen Erziehungs- und Ausbildungswesens. Marx' Urteil, Luther hätte in der Reformation, der „revolutionären Vergangenheit“ Deutschlands, beim Menschen „den Pfaffen außer ihm“ durch den „eigenen innern Pfaffen“ ersetzt, 20 kommt bei den Pietisten erst zu seinem ganzen Recht. Mit ihren unzähligen Traktaten zur Führung eines gottgefälligen Arbeits- und Familienlebens, den Stiftungen Franckes zur Massenumerziehung in Halle und anderswo, ihren praktischen Auslegungen der diffizilen Gnadenlehre brachten sie die augustinische Theologie Luthers in eine massenkompatible, emotional ansprechende Form. Die Besinnung auf glaubensmotivierte Taten war einer der theologischen Streitpunkte mit der lutherischen Orthodoxie, die den Pietisten die Rückkehr zur Werkgerechtigkeit vorwarf, also zur Rechtfertigung aus den eigenen Werken statt aus der göttlichen Gnade.
Pietismus ist eine Verlaufsform der Verinnerlichung der Herrschaft, ein frömmelnd zur Politisierung des Privaten drängender Voluntarismus, der sich in säkularer Gestalt als Rationalismus und Reformismus fortsetzte. Dies ist an der Geschichte der Universität Halle gut zu erkennen, wo der Einfluss der Betreiber und Zöglinge der Francke'schen Stiftungen am stärksten war. Die Wirkung dieses pietistischen Zentrums auf den protestantischen Arbeitsethos kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, zumal die emsige Produktion von frommen und doch sehr lebenspraktischen Traktaten bis in den englischen Methodismus und den heutigen amerikanischen bible belt hineinreichte. Die Universität Halle wurde erst 1810, nach dem Verlust Halles durch Napoléons Territorialpolitik, von der Friedrich-Wilhelm-Universität (heute Humboldt) in Berlin als zentrale Hochschule abgelöst. Die Hallenser pietistischen Volksmissionen und Ausbildungsstätten in aller (protestantischen) Herren Länder haben dem kapitalistischen Impuls zur steten Zurichtung und Veredelung der Subjekte ein sehr spezifisch preußisches Gepräge von Selbstdisziplin, Arbeitswut und maximaler Ausschöpfung des Arbeitstages gegeben, wobei der Einzelne die bei Luther noch deutlich feudalistische, gewalttätige Unterwerfung bis zur Reibungslosigkeit im großen Räderwerk der christlichen Nation an sich selbst vornahm oder zumindest aus Karrieregründen lernte, den 'pietistischen Augenaufschlag' zu machen.
Der Rationalismus, der sich nach der pietistischen Hochblüte in Halle und anderswo in Preußen ausbreitete, beerbte trotz vieler inhaltlicher Unversöhnlichkeiten mit der frömmelnden Massenbewegung ihren sozialen Reformismus, ihren wortreichen Bekehrungseifer und ihre kollektivistische Selbstzucht. Obwohl nun in der Universität von Halle oder in den Berliner Salons statt von Erlösung vom Fortschritt geredet wurde und das Element der subversiven Kritik, das in jedem bürgerlichen Denken enthalten ist, nach den jenseitigen die diesseitigen Verhältnisse zu unterminieren begann, blieb das Denken am altruistischen Opfer fürs Gemeinwohl haften, an der völligen Hingabe des Einzelnen in die kollektive Unternehmung, und gelangte später und verkehrter zum bürgerlichen Egoismus angelsächsischer Prägung, der viel stärker von der calvinistischen Theologie geprägt war. Die Pole des Widerspruchs zwischen Individuum und Kollektiv sind zweifellos auch ausserhalb Preußens/Deutschlands vorhanden, doch es ließe sich ein signifikanter Unterschied darin ausmachen, dass die 'angelsächsische' Vergesellschaftung gedanklich beim monadischen Egoismus beginnt, um beim commonwealth der Egoisten zu gipfeln, während die Deutschen mit der Selbstverleugnung fürs Ganze antreten, um dann im Krieg gegen den totalen Feind alle Egoismen zu entfesseln.
All die unzweifelhaften Fortschritte und Errungenschaften des liberalen Preußens, von der Abschaffung der Folter 1740 bis zu den Stein'schen und Hardenberg'schen Reformen, waren immer auch Verfeinerungen der Herrschaft, die zumindest im Ideal von jedem Staatsbürger getragen, verinnerlicht und vorangetrieben wurden.
Als Friedrich II. 1784 einen neuen allgemeinen Gesetzeskodex herausgeben wollte, legte er ihn einer umfassenden öffentlichen Diskussion vor, zunächst beschränkt auf die juristischen und staatsrechtlichen Experten, dann aber ausgeweitet auf die Presse und ihr Publikum, um mittels eines Aufsatzwettbewerbs Verbesserungsvorschläge und Korrekturen in den 1794 schließlich vorgelegten Gesetzestext aufzunehmen. Die über das heutige Deutschland hinaus unausrottbaren Beschwörungen von Bürgerbeteiligung und aktiver Demokratie, die sich z.B. in der Occupy-Bewegung mit heimtückischer Naivität kristallisieren, haben diesen typischen, preußischen Charakter von Untertanen, die sich den Kopf ihres Souveräns zerbrechen, um endlich Begriff und Sache vollkommen kongruent zu machen. Sie transzendieren den eigentlichen Begriff des stumpfsinnigen Untertanen, des vermeintlich erzpreußischen Kadavergehorsams, denn in diesem Kadaver wütet ein eifernder, autoritärer, partizipatorischer Geist, der sich in den 20.000 Paragraphen des Allgemeinen Landrechts von 1794 immer wieder ausdrückt und dessen Formulierungen zahlreichen Eingang in die späteren deutschen Gesetzesbücher fanden. So wurde darin die traditionelle Bezeichnung 'Untertanen' oft durch 'Einwohner' 21 oder sogar 'Mitglieder' 22 ersetzt. Gleichwohl ist dieses Gesetzeswerk vom seltsamen Doppelcharakter des preußischen Staates geprägt, denn die auf den ersten Blick egalitären Formulierungen werden an anderer Stelle geradezu einkassiert. 23 Der scheinbare Widerspruch löst sich aber in der staatlichen Teleologie auf. 24 Diesem Hauptendzwecke des Staats hatten alle Aspirationen zuzustreben, auch die der Stände, der Kirche und des Adels, die in Preußen auf die Stützung der Verwaltung hin im wahrsten Sinn des Wortes organisiert wurden.
Friedrich II. nahm sich selber nicht aus der Pflicht zum Staatsdienst heraus. In seinem „Antimacchiavell“ von 1780, in dem er eine Kritik des in deutschen Augen zynischen Utilitarismus des „Principe“ formulierte, sagte er beispielsweise zur Frage des XVIII. Kapitels, wie der Fürst darauf zu achten habe, sich nicht verhasst zu machen: „Er [Macchiavelli] verlangt, daß sie nicht launisch, wankelmüthig, feige, weichlich, unentschlossen seien - worin er gewiß recht hat -, aber er räth ihnen auch, viel Größe, Ernst, Muth und Entschlossenheit zu zeigen. Der Muth ist gut; aber warum sollen die Fürsten solche Tugenden nur zeigen, nicht in der Wirklichkeit besitzen? Wenn die Fürsten diese Eigenschaften nicht wirklich besitzen, so werden sie dieselben immer nur schlecht hervortreten lassen, und man wird stets merken, dass der Schauspieler und der Held, den er darstellt, zwei Personen sind.“ 25 Dies ist der bis zu den niedrigsten Untertanen hinabgekommene Impuls, mit der Charaktermaske zu verschmelzen, ganz in der politisch-ökonomischen Rolle aufzugehen und der ihr innewohnenden unmenschlichen Richtung gegenüber selbstlos-egoistisch nachzugeben. Dieser Wunsch nach Deckungsgleichheit befeuerte gerade die liberalsten preußischen Ideale, ebenso wie die Vorstellungen von realer Demokratie und aktivem Bürgertum, die heute en vogue sind.
Der Historiker in nicht geringe Schwierigkeiten bringende Januskopf Preußens ist von der Gleichzeitigkeit scheinbar konträrer Impulse geprägt, die in sich Wirklichkeit etatistisch synthetisierten. Pietismus und Rationalismus, Autoritarismus und Liberalismus, Reaktion und Sozialismus haben durch ihre Polaritäten hindurch immer nur das Staatsgebäude erweitert und dafür gesorgt, dass sich die Subjekte bis in ihr Innerstes mit seinem Ausbau identifizierten.
„Die dunkle Beziehung von Lassalle, dem Begründer der deutschen sozialistischen Massenpartei, und Bismarck, dem Vater des deutschen Staatskapitalismus war symbolisch. Beide steuerten zur staatlichen Kontrolle hin. Regierungen und oppositionelle Parteibürokratien von rechts und links wurden je nach ihrer Stellung im Gesellschaftsprozeß auf irgend eine Form des autoritären Staats verwiesen. Für die Individuen freilich ist es entscheidend, welche Gestalt er schließlich annimmt.“ 26
Es wird anhand der preußischen Judenemanzipation besonders deutlich, wie das kapitalistische Prinzip der Abstraktion vom je konkreten Gebrauchswert in seine schließliche Negation übergeht. Denn die wohlmeinende Absehung von Traditions- und Kulturunterschieden, die hochherzige Gleich-Setzung von Juden und Christen in der preußischen Aufklärung, auch in der Haskala preußisch begeisterter Juden, lief größtenteils auf die Vollendung der Akkulturation der Juden hinaus, nämlich ihr Verschwinden durch Konversion zu einer 'neutralen' jüdisch-christlichen Naturreligion oder gleich zum protestantischen Christentum. Rahel Levin, die später konvertierte und nach ihrer Heirat Varnhagen hieß, empfing in ihrem Berliner Salon die illustresten Köpfe Berlins. Sie war von den Aussichten der Assimilation zunächst so begeistert, dass sie nach dem Lesen von Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ ihrer Schwester schrieb: „Der Jude muß aus uns ausgerottet werden, das ist heilig wahr, und sollte das Leben mitgehen.“ 27 Ohne zu ahnen, dass sie damit unfreiwillig Prophetisches redete.
Solange an den Juden 'Jüdisches' haftete, machten sie sich des ungeschützten Andersseins schuldig, während ihre eigenen Versuche, sich zu assimilieren, sie zum Gegenstand antisemitischer Pamphlete machten, die ihnen eben die Assimilation als Unterwanderung auslegten. Der Höhepunkt jüdischer Begeisterung für das preußische Projekt kam, als im Zuge des alle Kräfte anfordernden Kampfes gegen Napoléon zum ersten Mal Juden den Rock des Königs anziehen durften, also als preußische Soldaten gegen den Usurpator der französischen Revolution kämpften. Der massive Gedenkkult, der nach 1813 die glor- und verlustreichen preußischen Schlachten feierte, zeigte allerdings den aufgeklärt-preußischen Juden bald sein historisches a posteriori: Das Militärwochenblatt veröffentlichte 1843 böswillig herabgeminderte Teilnehmerzahlen der Juden am Befreiungskrieg, jüdische Zeitungen korrigierten so empört wie vergeblich, mit bedrückendem Vorgeschmack auf die unglücklichen Patrioten, denen im letzten Kapitel preußischer Geschichte das Eiserne Kreuz abgerissen und die KZ-Nummer eintätowiert wurde. Im gleichmachenden Prinzip selbst liegt das absondernde begründet, es ist die proklamierte Gleichheit, die die Ungleichen hervorbringt, weil sie ihrer konstitutiv bedarf. „Aus ihren eigenen Eingeweiden erzeugt die bürgerliche Gesellschaft fortwährend den Juden.“ 28
Durch die Kritik am Juden wurde Preußen erst richtig deutsch. Ius soli hatte ius sanguinis zur Antithese, Nominalismus stritt mit Ontologie, es waren zwei Brüste, die, ach, nur ein preußisches Herz bargen.
Die nationale Gemeinschaft konstituiert sich durch die Extreme hindurch mittels der Judenfrage, Zugehörigkeit und Identität à la allemande bedürfen dieser Negation, die zwischen Hetze und Apologie verhandelt wird. Wer die Juden als vollkommen Gleiche in die Gesellschaft integrieren möchte, arbeitet in letzter Konsequenz und oft in bester Absicht an ihrem Verschwinden als Juden, was dem Programm der Antisemiten, der Vernichtung als Juden, insoweit zuarbeitet, als dass egalité nur ohne Juden und nur unter Angst zu haben ist. Verschiedenheit und Gleichheit gehen so angstvoll Hand in Hand. Es ist aber gewiss nicht unerheblich, ob man das Stigma unaufhebbarer, 'Lösungen' heischender Verschiedenheit erhält oder einem unter der falschen Behauptung abstrakt-formaler Gleichheit zu leben beschieden wird. Die Pendelschläge der Antisemitismus-Debatten seit Mommsen vs. Treitschke bewirkten insgesamt nichts anderes, als dass das nationale Kollektiv sich mittels seiner Positionierung gegenüber den Juden definierte.
Die rückständige Bevölkerung des Landes wurde mit den progressiven Elementen qua Staatsziel verbunden, welches in der steten Selbstveredelung der Subjekte bis hin zum totalen Altruismus gegenüber der gemeinschaftlichen Sache bestand und doch den brutalsten, kältesten Egoismus jedes gegen jeden erzeugte. Die Beherrschung und Standardisierung des Volkes zielte auf Identität ab, während es den Juden gegenüber nicht um die Subsumption oder Aufhebung von Ungleichzeitigkeiten ging, sondern um ihre Fixierung als Andere, mittels der die falsche Versöhnung zwischen Herrschaft und Volk möglich schien. Die 'Mitglieder' des Staates hatten lediglich ihren „inneren Juden“ zu bekämpfen, d.h., ihre Kompabilität mit dem höheren Ganzen herzustellen. Da dies wie jeder Idealismus notwendig scheitern musste, war die unaufhörliche Suche nach dem „äußeren Juden“ vorprogrammiert.
Es besteht heute die absurde Situation, dass vulgärer Judenhass, genuiner Nationalsozialismus, Pogromversuche, reaktionäre Mobbildung mit der neudeutschen Staatsräson kollidieren, dass also z.B. die Inseler das level an Einsicht in die ihnen davonlaufende Räson und die tolerante Opferbereitschaft nicht aufbringen, mit der sich die Berliner Republik präsentieren will.
Es ist die Fortgeschrittenheit der Herrschaft selbst, die den Rückschritt offenbar macht. Und es ist eine besonders preußische Dynamik, dass der Impetus der Reformen die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung nutzt, die bornierten und überholten Atavismen als Schwungmasse einsetzt. Immer schon war das Volk den kühnen Plänen seiner Herrscher weit hinterher, und dies gilt insbesondere für die Altmark, wo es immer wieder zu Bündnissen zwischen reaktionärem Landadel und Bauern gegen 'Berlin' kam. Friedrich Wilhelm I. nannte in seinen „Instruktionen“ von 1722 die Adligen der Altmark „schlimme, ungehorsame leutte“ und „rechte leichtfertige leutte gegen ihren Landesherren“. Dies trifft übrigens den Tenor der heutigen Vorwürfe gegen den Inseler Bürgermeister Bismarck, der sich opportunistisch-populistisch an die Spitze des Volkszorns stellte und seinen Landesherren in den Rücken fiel. Die Be- oder Misshandlung des dummen Volkes sind opponierende Teile eines etatistisch-kapitalistischen Ganzen, in Verlauf und Funktion der Spannung zwischen Monetarismus und Keynesianismus, Rassismus und Antirassismus, Fortschritt und Reaktion verwandt, die letztlich auf dem Widerspruch von Bourgeois und Citoyen gründen und nach Hegel ihre dialektische Synthese erst im Soldaten 29 finden. Der Staatsbürger, der subjektivierte Tauschwert, ergreift in dieser Gestalt die Bereitschaft, andere und sich zu opfern.
Mit Lieb' und Treue nah' ich mich dem Throne,
Von welchem mild zu mir ein Vater spricht;
Und wie der Vater treu mit seinem Sohne,
So steh' ich treu mit ihm und wanke nicht.
Preußenlied
Die liberale Verteidigung des grundgesetzlichen Prinzips der Freizügigkeit auch in Insel macht sich unweigerlich zur Parteigängerin der Austauschbarkeit und Flexibilität, die dem variablen Kapital abverlangt werden, und die aus dem Leben von Menschen Vektoren machen, die sie einander konfrontieren und ausliefern. Die staatlich-institutionell betriebenen Kampagnen für mehr Toleranz und Miteinander, die unzweifelhaften und vor allem aus der Sicht von Minderheiten unhintergehbaren Fortschritte der Volkserziehung, sollen den kollektiven und individuellen Egoismus transzendieren und sind doch nur funktionsgarantierende Widerstände, die in die allgemeine Asozialität von Herrschaft und Verwertung eingebaut wurden. Die Erziehung selbst erzeugt die verwirrten Zöglinge, die landauf, landab im Namen der Zivilisation Missionsreisen und Strafexpeditionen gegen echte oder gewähnte Barbaren veranstalten, und ebenso reproduziert sie die dumpfen, ressentimentgeladenen Massen, denen sie heimleuchten wollen. Man kann die Entfaltung dieses Impulses zur vollen etatistischen Pracht in jedem Tatort bewundern, der sich das lokale Personal vorknöpft, das nicht up-to-date ist und deshalb von sagenhaft mächtigen Volksfeinden manipuliert wird. Der Kommissar hat hier als das Schwert Gottes, das er darstellt, zwischen verzeihlicher und sogar erwünschter Eigentümlichkeit der Warensubjekte und betriebsstörender Verhärtung zu scheiden. Erstere verheißt authentische Heimatverwurzelung oder wenigstens genuine Identität. Letzterer wird ein Tribut entrichtet, Respekt gezollt, 'Verständnis' bekundet, um sie dann an den ihr zukommenden Platz innerhalb des organischen Ganzen zurückzuverweisen. Die Ideologieproduktion ist dermaßen eingefleischt, dass die gesamten Geschehnisse in Insel wie von selbst einer Tatort-Choreographie gefolgt sind, mitsamt des ganzen Repertoires deutscher Sozialcharaktere: Der fiese Bürgermeister, die fiesen Barbaren, noch fiesere Nazis, die Vertreter der Staatsräson und ihre eifernden Akolyten. Nicht einmal das Plotdetail hat gefehlt, dass die wütenden Bauern einst selber eine Vergewaltigung in ihrer Mitte zu decken versuchten und das damalige Opfer allem Anschein nach auf der Seite der Engel kämpft, die mit den 'Opfern des Volkszorns' solidarisch sind. Das Leben lebt nicht nur nicht, es schreibt zudem mit toter Hand seine beschissenen deutschen Drehbücher in die Landschaft.
5. Hirtengesänge - Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm
Er liebte die Ausländer und ließ sich ihre Aufnahme gar sehr angelegen sein, so dass ihre Menge nicht nur dem Palaste, sondern auch dem Reiche mit Recht lästig erschien. Er selbst freilich fühlte sich bei seiner Hochherzigkeit durch eine derartige Last sehr wenig beschwert, da er sogar bedeutende Nachteile um des Ruhms der Freigebigkeit und des Lohns eines guten Namens willen in Kauf nahm. 30
An Hirtengesängen besteht wahrlich kein Mangel, von den Weihnachtsansprachen der Souveränsdarsteller bis zu Kritiken, die zu Verbesserungsvorschlägen verkommen, wurde und wird in Deutschland unverdrossen am besseren Staat gearbeitet. Frohe und dankbare Gefühle könnten sich aber erst einstellen, wenn das Ende der Prähistorie am Horizont erscheinen würde, wenn also die Menschen sich endlich ihrer eigenen Geschichte, ihrer Produktionsmittel, ihrer Gedanken bemächtigten. Im Zeitalter einer wahren Vernunft wäre diese nicht das tote und tötende Bewusstsein des automatischen Subjekts, sondern Geist, der das Fleisch auferstehen lässt. Wo „Verschiedenheit ohne Angst“ wäre, könnte man sogar einmal vernünftig über Sinn und Unsinn der jüdischen Beschneidung reden. Es aber hier und jetzt zu tun, ganz gleich ob als Kritiker oder Apologet, kann nur der Tendenz zur falschen Synthese nützen. Wer bewusstlos der reinen Folgerichtigkeit der politisch-ökonomischen Räson nachdenkt, sich von dieser immanenten Schlüssigkeit imponieren lässt, wird sich, einen logischen Schritt nach dem anderen setzend, in Graf Zahl aus der Sesamstraße verwandeln und zuletzt die Finsternis mit wahnsinnigen Lachsalven erfüllen.
Anmerkungen:
Zit. nach: Einhard, Leben Karls des Großen, München 1928, S. 27.
↩
Dieses griechische Kunstwort, das erstmals 1688 in einer medizinischen Abhandlung das Heimweh Schweizerischer Söldner beschrieb, entstand aus νόστος, „Heimkehr“ und άλγος, „Schmerz“.
↩
Diese sind ihrerseits schon ein christlich getünchter Ersatz für die Fruchtbarkeitsgöttin.
↩
Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M., 1988, S.9.
↩
Moses Hess spottete bereits über Juden, die verzweifelt versuchten, sich bis ins Optische anzupassen und dabei die eigene, 'typische' Physiognomie als ihren Feind erleben mussten: „Aber so wenig die 'radikale' Reform, richtig so genannt, weil sie die Axt an die Wurzel des Judentums, an seinen nationalen Geschichtskultus legte, so wenig, sage ich, diese Reform ihren Zweck erreichte, so wenig auch erreicht das Streben der Juden nach Verleugnung ihrer Abstammung sein Ziel. Die jüdischen Nasen werden nicht reformiert, und das schwarze, krause jüdische Haar wird durch keine Taufe in blondes, durch keinen Kamm in schlichtes verwandelt.“ (Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätenfrage, Wien und Jerusalem 1935, S. 25f.)
↩
„Die Städte sind der Abgrund der menschlichen Gattung.“ (Émile ou De l'éducation, 1762, Buch I)
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Sie hat aller Wahrscheinlichkeit nach nie so etwas gesagt. Es handelt sich hierbei um die Verfälschung einer ihr gar nicht zugeschriebenen Anekdote Rousseaus, die in Frankreich so erst im XIX. Jahrhundert in Umlauf kam und in Deutschland von Erich Kästners „Pünktchen und Anton“ popularisiert wurde.
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„Im Keller des Bundeskanzleramtes ist ein Blockheizkraftwerk installiert, das mit Biodiesel betrieben wird. [...] Zudem verfügt das Blockheizkraftwerk über eine Kraft-Wärme-Kälte-Kopplung, sodass damit im Sommer auch das Kanzleramt klimatisiert werden kann. Überschüssige Wärme des Blockheizkraftwerkes wird in einem Salzstock in 300 Metern Tiefe unterhalb des Reichstags zwischengespeichert.
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Auf dem Dach des Kanzleramtes ist eine Photovoltaikanlage mit rund 1300 m² Solarmodulfläche installiert. Die Module haben eine elektrische Nennleistung von etwa 150 kWpeak. Die erzeugte Energie wird von insgesamt 90 Wechselrichtern in Wechselstrom umgewandelt und dezentral in das Hausnetz des Bundeskanzleramtes eingespeist. Zusätzlich bezogener Strom ist ausschließlich Ökostrom und wird aus einem Mix von Wasserkraft, Biomasse und Sonnenenergie hergestellt.
Grundlegende Voraussetzung für eine autarke Energieversorgung ist eine energiesparende Anlagentechnik. Im Bereich der Klimatisierung sind für die insgesamt 280.000 m³/h Außenluftleistung multifunktionale Wärmerückgewinnungssysteme im Einsatz, bei denen indirekte adiabate Verdunstungskühlungen integriert sind. Insgesamt werden dadurch folgende Leistungseinsparungen erzielt:
- 2040 kW: Verminderte Wärmeerzeugungsleistung durch Wärmerückgewinnung
- 660 kW: Verminderte Kältemaschinenleistung durch Kälterückgewinnung/adiabate Kühlung
- 220 kW: Verminderte Elektroanschlussleistung durch effiziente Technik
Grundsätzliches Ziel der Wärmerückgewinnung ist die Minimierung des Primärenergieverbrauchs. Dabei stehen neben den energiewirtschaftlichen Bedürfnissen auch ökologische Forderungen im Vordergrund. Besonders im Hinblick auf das Kyoto-Protokoll werden zum Schutz des Klimas durch das Bundeskanzleramt im Rahmen dieser Maßnahmen jährlich 1400 Tonnen CO2-Emissionen vermieden.“
(http://de.wikipedia.org/wiki/Bundeskanzleramt_(Berlin))
Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 180f.
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„Für den Intellektuellen ist unverbrüchliche Einsamkeit die einzige Gestalt, in der er Solidarität etwa noch zu bewähren vermag.“ (Theodor W. Adorno: Minima Moralia, Frankfurt/M. 1951, S.30)
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Die musikalische Vortragsbezeichnung sotto voce, gewöhnlich mit „unter der Stimme“ oder „geflüstert“ übersetzt, ließe sich hier freilich auch mit amtlichem „Geraune“ interpretieren, das der einfachen Tatsache geschuldet ist, dass niemand gerne seinen Namen unter eine Gefährdungsprognose setzt.
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„Damals wurde bekannt, dass die zwei Männer mehrfach Frauen vergewaltigt hatten. Dass sie keine Therapie machen wollten. Und dass es ein Gutachten gebe, in dem ihre Rückfallgefahr als hoch eingeschätzt wird – sollten sie wieder Alkohol trinken.“ (http://www.zeit.de/2012/25/S-Insel)
„Sie wurden auf Schritt und Tritt von mehreren Polizisten verfolgt, bis ihnen Ungefährlichkeit attestiert wurde und die Polizisten abgezogen wurden. Ein ehemaliger Richter des Landgerichts Freiburg sagte später, Hintergrund dieser Entscheidung seien wohl mehr die horrenden Kosten der Polizeiüberwachung als ein Gesinnungswandel der beiden Männer gewesen.“ (http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/integration-von-sexualstraftaetern-insel-versinkt-in-angst-a-796248.html)
Die Apologeten der Gleichbehandlung der beiden Männer bemühten oft dieses Justizreform-inspirierte Wort, obwohl gerade die besagte Resozialisierung durch das Urteil des EGMR hinfällig wurde. Die Männer wurden trotz nicht erfolgter Therapie schlichtweg freigesetzt und zogen ohne staatliche Beteiligung als juristisch Freie nach Insel.
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Nichts gegen Polemik, und schon gar nicht, wenn sie mit breitem humoristischem Pinsel witzige Karikaturen zeichnet. Wie sie aber hier denunzieren, vermischt sich fatal mit großstädtischem Dünkel: „Es ist nicht schön, in einer Gegend zu wohnen, die nur unwesentlich dichter als das australische Outback besiedelt ist; es ist nicht angenehm, in einem Landstrich zu leben, um den Autobahnen und Fernreisezüge einen großen Bogen machen; und es ist ebenfalls nicht schön, wenn das kulturelle Highlight der Woche der kurze Halt des Bo-Frost-Autos ist. Wer von Euch in den Spiegel oder über den Gartenzaun schaut, der weiß: Die Nähe zur Natur, die eingeschränkten Sozialkontakte und die geringe Auswahl an Ehe- oder Sexualpartnern machen Menschen nur selten freundlich, attraktiv oder sogar glücklich.“
Und wo sich so subtil vor der Inzucht geekelt wird, ist das Spiel mit dem Klischee der Vertierung nicht fern:
„Wir kommen damit zum Ende – immerhin wollen wir uns im Unterschied zu Euch nicht ewig zwischen Kühen, Schweinen und abgerockerten Landadeligen aufhalten: Euren beiden neuen Nachbarn ist zu wünschen, dass sie in Ruhe leben können, wo sie wollen. Sie haben ihre Strafe abgesessen. Euch aber wäre es zu wünschen, dass sie und die wenigen vernünftigen Einwohner dieses Ortes, mit denen wir uns an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich solidarisieren, aus Insel wegziehen. Dann wäret Ihr vollkommen unter Euch und könntet Euch wieder wechselseitig wegen zu lauter Rasenmähergeräusche, zu hoher Hecken oder blöder Blicke beim Dorffest das Leben zur Hölle machen. Das wäre eine weitaus gerechtere Strafe als Insel zu fluten. Wir gönnen sie Euch von ganzem Herzen – Ihr habt sie Euch verdient!“
Effi Briest, Zürich 1963, S. 267f.
↩
Insel ist aber wohlgemerkt gerade noch westelbisch.
↩
Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, = SFS 9, Frankfurt/M. 1974, S. 539.
↩
Einhard, Leben Karls des Großen, a.a.O., S. 57.
↩
Ebd., S. 59.
↩
„[Das Generalkommissariat] kontrollierte alle Einnahmen, die zur Deckung der Militärausgaben bestimmt waren (Kontribution, Akzise und ausländische Subsidien), und unterminierte nach und nach das Steuereinzugsrecht der Stände, indem es deren Beamte vor Ort unter seine Kontrolle brachte. Anfang der 1680er Jahre begann das Kommissariat, sich außerdem um das Wohlergehen der einheimischen Manufakturen zu kümmern. Es nahm ein Programm in Angriff, das Brandenburg auf dem Gebiet der Textilien aus Schafswolle autark machen sollte, und etablierte sich in lokalen Konflikten zwischen den traditionellen Zünften und neuen Unternehmen als Vermittler.“ (Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947, München 2008, S. 113)
↩
in: MEW 1, Berlin 1976, S. 385f.
↩
§1: „Das allgemeine Gesetzbuch enthält die Vorschriften, nach welchen die Rechte und Verbindlichkeiten der Einwohner des Staats, so weit dieselben nicht durch besondre Gesetze bestimmt worden, zu beurtheilen sind.“
↩
§ 22: „Die Gesetze des Staats verbinden alle Mitglieder desselben, ohne Unterschied des Standes, Ranges und Geschlechts.“
↩
§ 82: „Die Rechte des Menschen entstehn durch seine Geburt, durch seinen Stand, und durch Handlungen oder Begebenheiten, mit welchen die Gesetze eine bestimmte Wirkung verbunden haben.“
↩
§ 57: „Außerdem sind alle dergleichen besondre Gesetze und Verordnungen so zu erklären, wie sie mit den Vorschriften des gemeinen Rechts, und dem Hauptendzwecke des Staats am nächsten übereinstimmen.“
↩
http://www.friedrich.uni-trier.de/de/jost/505-o2/. In diesem Zusammenhang verdient der ausgeprägte Abscheu Erwähnung - insbesondere seitens deutscher Kommentatoren, Feuilleton- und Kabarettisten - der sich gegen die Tatsache richtete, dass mit Ronald Reagan und Arnold Schwarzenegger ehemalige Hollywood-Schauspieler das politische Feld betraten. Auch in Amerika erhob sich selbstverständlich gegen diese Männer Kritik, doch insgesamt um eine entscheidende Nuance verschieden: Während drüben vor allem Inhalt und Qualität der jeweiligen Darstellung bemängelt wurden, empörte man sich hier vielmehr über das Darstellen selbst.
↩
Max Horkheimer, Autoritärer Staat, in: Kritische Theorie der Gesellschaft, Bd. 3, o.O., S. 45.
↩
Hannah Arendt, Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München 1981, S. 126.
↩
Karl Marx, Zur Judenfrage, Berlin 1919, S. 45.
↩
„Diese Bestimmung, mit welcher das Interesse und das Recht der Einzelnen als ein verschwindendes Moment gesetzt ist, ist zugleich das Positive, nämlich ihrer nicht zufälligen und veränderlichen, sondern an und für sich seienden Individualität. Dies Verhältnis und die Anerkennung desselben ist daher ihre substantielle Pflicht – die Pflicht, durch Gefahr und Aufopferung ihres Eigentums und Lebens, ohnehin ihres Meinens und alles dessen, was von selbst in dem Umfange des Lebens begriffen ist, diese substantielle Individualität, die Unabhängigkeit und Souveränität des Staats zu erhalten.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien einer Philosophie des Rechts, § 324, Hamburg 1995, S. 279ff.)
↩
Einhard, Leben Karls des Großen, a.a.O., S. 105.
↩
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