Will man den Wutbürger und seine ebenso fantastischen wie fanatischen Vorstellungen von Politik und Ökonomie kritisieren, so steht man vor einem Problem: Über Irrationales lässt sich bekanntlich nur schwer rational sprechen, Verrücktes nicht bruchlos in logische Abfolge bringen. Anders gesagt: Die innere Zerrissenheit, Besessenheit und A-Logik des betrachten Gegenstandes teilt sich stets auch seiner Darstellung mit. In unserem Fall heißt das: Eine nach Gesichtspunkten der Folgerichtigkeit aufgebaute Analyse der, wenn man so will, wutbürgerlichen Programmatik ist schlechterdings nicht möglich. Es handelt sich bei dem zu Analysierenden notgedrungen um so etwas wie die disparaten Elemente einer verbreiteten Mentalität. Jedes dieser Elemente bleibt auch in sich erratisch und widersprüchlich; und auch das hat einen in der Sache, also dem Wutbürger selber, liegenden Grund: Weil nämlich seine Vorstellungen so sehr aus dem Bauch kommen, so am Unmittelbaren sich festmachen und so mit Wut , also mit heftigen, subjektiven Gefühlsregungen, aufgeladen sind, kann der direkte Anlass, der Zornauslöser auf keinen Fall hinreichend erklären, warum es zu solchen Ausbrüchen wie 2010 in Stuttgart kommt.
Ein eindringliches, weil richtiggehend grusliges Beispiel, das aus der Berichterstattung zu Stuttgart 21 stammt, ist die Geschichte des 66-jährigen, pensionierten Ingenieurs Dietrich Wagner aus Stuttgart, den ein bekanntes Pressefoto zeigte, als er mit blutenden Augen aus dem Getümmel weggeführt wurde. Wie könnte jetzt zweckrational erklärt werden, warum jener bekannte Wutbürger sein Augenlicht 1 aufs Spiel setzte (auf einem Auge hat er seine Sehfähigkeit irreversibel eingebüßt, wie mittlerweile feststeht)? Tut man so etwas aus Widerwillen gegen einen schlichten Bahnhofsumbau samt Grünanlagenerneuerung? Wie könnte zweckrational erklärt werden, dass er sich aus diesem eigentlich nichtigen und mit seinem persönlichen Wohlergehen nichts zu tun habenden Anlass in einen regelrechten Selbstverstümmelungs-Furor gesteigert hatte? Ein Polizei-Video nämlich zeigt den Mann, wie er sich gleich dreimal hintereinander mit theatralisch erhobenen Armen ohne erkennbaren Grund in den Strahl stürzte – und das obwohl er schon nach dem ersten Versuch sichtbar mitgenommen war. Dass hernach der Märtyrer der Bewegung die Bahnhofs-Baustelle auf seinem Transparent als „CDU-KZ“ bezeichnete und sich damit in die Rolle des geschundenen Lagerhäftlings steigerte, setzte dann noch eine besonders deutsche Duftmarke.
Doch sieht man von dieser Unappetitlichkeit einmal ab, so bleibt doch festzuhalten, dass ein solches Verhalten, das einem den Begriff Kamikaze in den Sinn kommen lässt, schlechterdings nicht aus der Sache „Bahnhofs- bzw. Parkumbau“ selber rühren kann, sondern dass es sich unbedingt umgekehrt verhalten muss: Die Sache dient als Projektionsfläche, als auslösender Anlass ansonsten unterdrückten Hasses und gesellschaftlich noch zensierter autoritärer Begierden. Diesem Hass und diesen Begierden soll im Folgenden ein wenig nachgespürt werden.
Dass das, was da aus dem seelischen Untergeschoss des Wutbürgers und seiner Sympathisanten ans politische Tageslicht drängt, alles andere als konsistent und im Kantischen Sinn intelligibel ist, liegt also auf der Hand; ohne ein gewisses Maß an Spekulation wird über derlei demnach nicht geredet werden können. Deshalb auch werden die an dieser Stelle diskutierten Elemente der Wutbürger-Mentalität lose aufgereiht sein und sich in ihrer Abfolge eher an alltäglichen Beobachtungen orientieren und diese interpretieren.
Das Windrad, die Disco und das Altern
Das Thema, das am südlichen Rand Münchens die Gemüter seit Jahren erzürnt, sind mögliche Windräder. Die Lokalzeitung war voll von tumultartigen Gemeinderatssitzungen, kursierenden Unterschriftenlisten und unterschiedlichen Standortgutachten; es herrschte ein regelrechter Grabenkampf: Teilweise über wenige Straßenzüge oder gerade einmal durchs Wäldchen hindurch schoben sich über Jahre Kleinstkoalitionen aus wütenden Rentnern, besorgten Müttern und Öko-Hausbesitzern den schwarzen Peter möglicher Standorte zu. Jeder, der dabei zu Wort kam, beherrschte natürlich den Tonfall, den einst die ökologisch-pazifistischen Bewegungen vorgegeben hatten: Das Winken mit dem Weltuntergang, das Raunen über hoch unwahrscheinliche, aber eben nicht mit dem allerletzten Promill Wahrscheinlichkeit ausschließbare Folgen und hypothetische Unfälle, bestimmte und bestimmt die Debatte ebenso wie der landschaftsökologisch nur fadenscheinig bemäntelte Heimatschutz. Das Ziel der Opponenten lag jedenfalls in allen Fällen klar zutage: Die Menetekel der Moderne, also Bauten, die sichtbar naturwissenschaftlich fundierte Technik und industrielle Arbeit repräsentieren, sollen aus dem Gesichtsfeld verschwinden. Das wurde schließlich zum gemeinsamen Nenner, auf den sich die zerstrittenen Kleinstfraktionen vor kurzem einigen konnten. Seit Weihnachten etwa schreien Plakate an fast jeder Ecke, dass kein Windrad im Voralpenland Platz finden solle, absolut nirgendwo.
Mindestens ebenso tief blicken lässt, dass im selben Atemzug, also vor dem zweiten Ausrufezeichen dieser Plakate, auch noch das Verbot der so genannten „Lichtorgel“ gefordert wird. Es handelt sich dabei um ein ab und an eingeschaltetes, zwar weithin sichtbares, aber keinesfalls ernsthaft störendes, abendliches Laserstrahlenspiel eines größeren Tanzschuppens. Der gnatzige Widerwille richtet sich also ganz unverhohlen nicht nur gegen Arbeits-Technik, sondern auch gegen Vergnügungs-Technik.
Der engagierte Bürger mittleren und fortgeschrittenen Alters wehrt sich eigentlich dagegen, dass sich überhaupt irgend etwas Sichtbares verändert, eine Haltung, die übrigens auch der kurrenten Vorstellung vom Artenschutz eingeschrieben ist. Die will sogar die Evolution genau jetzt einfrieren, wo die Ökologen selbst alt werden, wo Veränderung überhaupt ängstigt: die eigene biologische Veränderung, sprich: das Altern, genau so wie die äußere und soziale, gespiegelt im eigenen Altmodisch-Werden.
Treffend ennerviert ein Werbespot für ein kostengünstiges, rumänisches Importauto diese Wut der Alternden: In diesem Spot versammeln sich vor den Toren des DACIA-Händlers grauköpfige Schreihälse mit hochroten Köpfen und beleidigt wirkende Super-Langweiler. Das Bild von Starrheit und Starrsinnigkeit, das die Stuttgarter Bahnhofs-Protestanten abgaben, scheint demnach so allgemein verständlich geworden zu sein, das es sich bereits zur ironischen Brechung in einem typischen Konzept von Anti-Werbung eignet.
Die Kern-Botschaft: Es muss alles so bleiben wie es ist, verstehen also mehr oder weniger alle, und ich vermute, dass es dafür ein ebenso mehr oder weniger allgemeines, psychisches Fundament gibt. Es ist die Wut des ungelebten Lebens, das insgeheime Wissen darum, dass die quasi verbeamtete Existenz samt Eigenheim eben doch auf Kosten der allzu früh und allzu tief begrabenen Träume und Hoffnungen ging. Das wohl sorgt auch für die Umtriebigkeit, die verbissen mit gesunder Ernährung und selbstquälerischem Ausdauersport gegen die Vergänglichkeit des eigenen Körpers ankämpft, und mindestens ebenso verbissen auch gegen die äußere Veränderung anrennt, die die so gefürchtete eigene Vergänglichkeit sozusagen objektiv in die Landschaft schreibt. Objektiv in dem Sinne, dass gerade die Laser-Disco unbestechlich und durch kein Körnerbrot und keine Fahrradschinderei beeinflussbar die Veränderung und damit das Verschwinden der Welt anzeigt, in der die Wutbürger einmal jung waren. In der Haltung, dass das, was es früher nicht brauchte – Windräder, Laserstrahlen, unterirdische Bahnhöfe, elektronische Börsen etc. – auch heute nicht nötig ist, steckt der Hass darauf, dass das eigene Leben nicht der Endpunkt aller Geschichte war, dass der Fortgang der Welt anderen, d.h. vor allem Jüngeren, Möglichkeiten eröffnet, von denen man selber definitiv ausgeschlossen bleiben wird.
Der Widerwille gegen das Windrad und der Widerwille gegen das technisierte, moderne Tanzvergnügen gehören so tatsächlich zusammen. Der Wutbürger ist in dieser Hinsicht ganz eindeutig Nachfolger jener Landser-Opas, die ich noch als ganz junger Mann erlebt habe, die Langhaarige und damals so genannte Gammler anpöbelten, weil die ganz offenbar ihr Leben nicht für Pflicht und Arbeit opfern wollten so wie die Landser-Opas meinten, es getan zu haben. Was übrigens keineswegs ausschließt, dass der heutige Wutbürger vielleicht früher selber die Haare über die Ohren trug. Und auch der Landser-Opa hatte sich ja einstmals selber für das junge Deutschland gehalten, das die sprichwörtlichen morschen Knochen zerschlagen wollte; sein Unglück war, dass der Traum des ewigen arischen Jungbrunnens, der militarisierten Gesellschaft des Faustrechts, 1945 urplötzlich ausgeträumt war und ihm nur noch der widerwillige Gang ins innere Exil blieb, das Exil in der aufgrund eben dieses Widerwillens so grotesk übertriebenen Spießeridylle der Fünfziger.
Banker, Schulden und die heile Welt
Diese Seelenverwandschaft zwischen Landser-Opa und Wutbürger reicht bis in die ökonomischen Vorstellungen. Klingt das vielleicht beim ersten Hören verwunderlich, wird es schon klarer, wenn man sich vor Augen hält, was Wolfgang Porths ätzende Analysen vor Jahren schon verdeutlichten: Dass die so genannten neuen sozialen Bewegungen, die aufkamen, als der durchschnittliche Wutbürger ein Jugendlicher oder junger Erwachsener war, als Reprise der völkischen Bewegungen der Vorkriegszeit betrachtet werden müssen. Die Vorliebe für Blut und Boden, die Abneigung gegen technische Rationalität und Realitätsprüfung, die beide für die seither gesellschaftlich dominanten Alternativideologeme so typisch sind, eint die Generationen. Beides gehört zu der merkwürdigen Vorstellungswelt, die aus der entwickelten Geldwirtschaft allein ihre rein stofflich-sichtbare Seite herauspräparieren möchte – und das so, dass noch dem letzten Reaktionär und Vorgestrigen der unmittelbare Nutzen und die unmittelbare Notwendigkeit der verausgabten Arbeit klar ist. Diese Vorstellung unmittelbarer Nützlichkeit von Arbeit färbt natürlich auch auf die Vorstellung vom Geld ab und will dessen kalte und gleichgültige Allgemeinheit zurück in die Enge persönlicher sozialer Beziehungen holen. Nur so ist zu verstehen, dass in einer derart problemarmen und steuerstarken Region wie Stuttgart dermaßen militant auf die „Nützlichkeit“ der Verwendung staatlicher Gelder gepocht wurde.
Dass eine landschaftliche Veränderung wie der neue Bahnhof, der obendrein dem beschleunigten Verkehr mit der Außenwelt dient, nicht „nützlich“ sein darf und kann, ist klar: Er passt nicht in den Vorstellungsrahmen von Menschen, die sich Ökonomie am liebsten als Zusammenspiel von Familienbetrieben, Manufakturen und lokalen Sparkassen vorstellen.
Und damit liegt auch auf der Hand, wieso ausgerechnet das so biedere Stuttgart zur wutbürgerlichen Protesthochburg werden sollte, auch wenn das den sonst hellsichtigen Öko-Basher und Welt -Kolumnisten Michael Miersch zu der erstaunten Frage veranlasste: „Was geht in einem Land vor, dessen Zukunftsvision einem Museumsdorf gleicht? Und dies sogar in einer Region, die einmal als ein Zentrum deutscher Erfinder-, Ingenieurs- und Unternehmerkultur galt!“ 2 Des Rätsels Lösung ist wohl, dass dieser Unternehmergeist nicht plötzlich reaktionär geworden ist, sondern es seiner sozialen Genese nach schon immer war. Denn im Zentrum der Modernisierung à la Südwest stehen die Familie und der mit ihr verkettete Betrieb. Baden-Württembergs Industriestruktur ist geprägt von diesem Familienunternehmer, der als Patriarch über die Seinen und seine Arbeiter und Hintersassen und ihre respektiven kleinen Familienpatriarchate samt Mehrgenerationen-Eigenheim wacht. So vererben im Ländle nicht nur die Eigentümer der mittelständischen Betriebe an die eigenen Kinder, sondern auch die Belegschaft und Zulieferer, die Facharbeiter und Handwerker vererben ihre Berufsbilder und tatsächlich sogar - soweit möglich - die konkreten Jobs samt Immobilien, Vereins- und Parteizugehörigkeit plus lokalem Ehrenamt an ihre Nachkommen.
Letzteres gilt aber nicht nur für die Belegschaften der unzähligen mittelständischen Zulieferbetriebe von Medizin-, Auto- und Rationalisierungstechnik im Ländle, sondern auch bei Bosch oder Daimler selbst; ein Zustand, der alle Facetten des gesellschaftlichen Lebens prägt – insbesondere eben in jener südwestlichen Ödnis, die sich zwischen Freiburg im Westen, Stuttgart im Norden, Augsburg im Osten und dem Bodensee im Süden erstreckt. Dort verläuft selbst das Vereinsleben entlang der Familien- und Clansstrukturen, dort gibt ein zünftig vorgestelltes Handwerkerleben noch immer die Norm eines Sozialverhaltens des zwanghaften Schaffens, Werkelns, Bastelns und Putzens ab.
Die Miersch verwundernde Grenze des so genannten schwäbischen Erfindergeistes ist also in den bemerkenswert zählebigen sozialen, historischen und damit mentalen Bedingungen seiner eigenen Entstehung angelegt; er bleibt Produkt einer rückwärtsgewandten Modernisierung im Zeichen des Clans mit einer zunftartigen Ordnung von Arbeit und Freizeit. Der Exporterfolg der mittelständischen Industrie – jeder Daimler ist voll von ihren Produkten – diente und dient noch der inneren Stabilisierung dieses Modells. Kurz: erfinderisch wurde und wird man im Ländle, um soziale Veränderung jeglicher Art möglichst zu vermeiden.
Diese verlogene Harmonie, die in Baden-Württemberg zwar am ausgeprägtesten, aber keineswegs exklusiv vorherrscht, produziert wiederum in ihrer notwendigen Konfrontation mit der krisenhaften Gleichgültigkeit und Kosmopolität des allgemeinen Äquivalents, des Geldes, die Vorstellung, dass es bösartige Raffzähne wären, die die Idylle des Fleißes von außen gefährdeten und zerstören wollten. So werden Krise und Abstraktion zur moralische Verfehlung, die wiederum als Charakterfehler klar bestimmbarer Gruppen thematisiert wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang sicherlich, dass die Vorstellungen von Occupy-Aktivisten und Piraten sich immer wieder - wie vom Magneten angezogene Eisenspäne - auf die Juden beziehungsweise Israel ausrichten, wenn man sie sozusagen ihrer eigenen physikalischen Neigung überlässt. Die Vorstellung, dass die große Mehrheit sich nur von dem einen Prozent Raffzähne befreien müsse, der Widerwille gegen den Zins und seine Derivate bei gleichzeitiger Verherrlichung der ehrlichen Arbeit, kreisen um ihr verbotenes, aber ebenso unvermeidliches Zentrum. Sie sind nichts anderes und nichts weiter als die „politische Ökonomie des Antisemitismus“, um eine griffige Formel aufzugreifen, die Robert Kurz vor Jahren einmal prägte.
An der Schuldenkrise der Staatshaushalte entzündet sich diese Ökonomie des Antisemitismus erst recht, weil durch sie das Doppelgesicht des Volksstaates offenbar wird. Denn dieser kann die vermeintliche Idylle ehrlicher, nützlicher und klar bestimmter Arbeit und damit die Brauchbarkeit der Arbeitskraft nur über seine Verschuldung garantieren. Die aber ist, rechnerisch gesehen, nur ein Riesenkredit, auf den natürlich spekuliert wird und für den natürlich Zinsen anfallen. Der Hass auf den raffenden Banker gehört so konstitutiv zur Vorstellung des sozialen Volksstaats, denn der Banker verkörpert die verhasste Erinnerung an die Unmöglichkeit der Abkoppelung nützlicher Arbeit und nützlichen Geldes von den Abstraktionen des Marktes und des Kredits.
Autoritäre Rebellen und direkte Demokratie
In diesem Klima ständiger ideologischer Reizbarkeit verdeutlichen sich zunehmend auch die Ansprüche der Staatsbürger an Gestalt und Auftreten ihres Staates; in diesem Klima entstellen sich ihre politischen Wünsche zur Kenntlichkeit. Die Mäßigung des Volkswillens durch das repräsentative System von Parteien und Parlament wird zunehmend als Fessel empfunden, die vermeintlichen Künder des wahren und echten Volkswillens, die wutbürgerlichen Aktivisten aller Couleur, drängt es zur Unmittelbarkeit, zum Handstreich, der sich um Gesetz und Verfahrensordnung nicht mehr schert. Gerade dem Parlament, aber auch prinzipiell jeder Form der politischen Kompromissbildung, haftet der Makel an, allzu nahe mit der Welt des Handels verwandt zu sein – und tatsächlich sollen die Entscheidungen nicht mehr bei den Parlamenten liegen, die ja die politische Entsprechung der Handelsplätze, der Börsen des Bürgertums, waren, sondern beim Volk, mindestens aber bei seinem Tribunen. Den gab in Stuttgart Heiner Geißler mehr schlecht als recht – und dennoch kündete allein die Installation eines solchen außerhalb des politischen und administrativen Verfahrens angesiedelten, über den Parteien stehenden Mediators von den sich verändernden Ansprüchen; nämlich davon, wie der Staat aussehen solle, dem die Bürger gern wieder Folge leisten wollen.
Mit Rückblick auf die letzten Jahre könnte man thesenartig formulieren: Deutsche Heimatschutzbewegungen wollen die Abkehr vom naturfernen, künstlichen, unauthentischen, abgehobenen politischen und juristischen Prozedere des bürgerlichen Rechtsstaates. An Stelle seiner abstrakten Vorgaben sollen echte Bedürfnisse echter Bürger treten, denen der technisch-administrative Apparat dienstbar zu sein hat. Anders gesagt: Der ideale Staat der Heimatschützer wäre das prozessierende Ressentiment, eine Art Gewaltmonopolist des Irrationalen – also so, man errät es leicht, wie es die große Mehrheit der Deutschen an ihren Staat zwischen 1933 und 1945 schätzte. Dem Bedürfnis nach solcher Systemveränderung ist das so genannte Schlichtungsverfahren in Stuttgart soweit entgegen gekommen wie noch kein runder Tisch in der Geschichte der Bundesrepublik zuvor. Es steht zu befürchten, dass die brutale Bahnhofsposse in Stuttgart ein echtes politisches Fanal war.
Faschismus als Tagtraum
Was an Elementen der Wutbürger-Mentalität bisher skizziert wurde, lässt sich vielleicht am besten unter drei Oberpunkten kurz rekapitulieren:
1. Die Innenausstattung des Wutbürgers: Deren Konstante ist ein krampfhafter Veränderungsunwillen, der sich aus dem Zorn über das eigene, so wenig gelebte Leben speist;
2. Seine ökonomischen Vorstellungen beharren darauf, dann wenigstens Teil eines unmittelbar nützlich Ganzen zu sein und nicht Spielball der geisterhaften Abstraktionen von Tausch und Wert;
3. Seine politischen Vorstellungen setzen diesen Abstraktionen und ihrem Widerklang in den repräsentativen Gremien den politischen Handstreich entgegen und liebäugeln dafür mit der unmittelbaren, volkstümlichen, autoritären Herrschaft.
Doch es bleiben trotz dieses schematischen Überblicks immer noch mindestens zwei grundlegende Widersprüche erhalten:
Erstens: Wie kann sich der Wutbürger fürs so genannte Gemeinwohl stark machen, zugleich aber ganz offensichtlich kleinlichste Partikularinteressen verfolgen? Also unbedingt für Ökostrom sein, aber zugleich gegen Windräder, also die Gewinnung von Ökostrom? Oder: Den Individualverkehr kritisieren, aber – wie in Stuttgart – gegen eine Vereinfachung des Zugverkehrs intervenieren? Und zweitens: Wie reimen sich die autoritären Sehnsüchte des Wutbürgers auf die bockige und häufig hochaggressive Ablehnung der manifesten, staatlichen Autorität, wenn sie in Form von Gerichtsbeschlüssen und Wasserwerfern auf den Plan tritt?
Beides lässt sich nur so erklären, dass der Wutbürger zum Opfer eigentlich durchaus bereit wäre, also zur Hinnahme echter oder eingebildeter Nachteile in seinem Wohn- und Lebensumfeld, wenn er nur die Institution akzeptieren könnte, die ihm diese Opfer abverlangt. An dieser prinzipiellen Opferbereitschaft jedenfalls kann kein Zweifel bestehen, beweist doch der ökologisch bewusste Bürger täglich, was ihm im Ernstfall zuzumuten wäre, etwa durch die Einnahme von Alternativmedizin und allerlei vorgeblich Gesundem, das meist ebenso schlecht riecht wie es schmeckt, und den Genuss biologischer Küche, die hypothetische Ernährungskrisen schon mal in ihren Rezepten durch den weitgehenden Verzicht auf Verfeinerung und Raffinement der Nahrung vorwegnimmt.
Es kann also nur so sein, dass es dem Wutbürger nicht gegen den Souverän an sich geht, sondern den Souverän in gemäßigter Form. Dessen Autorität, Opfer zu verlangen und Partikularinteressen zu übergehen, wird nicht anerkannt. Seine Geschäftsordnung scheint ganz offenbar zu schwach, zu papiermäßig, zu abstrakt, als dass man auf ihrer Grundlage irgendeine Einschränkung auf sich nehmen wollte; denn es ist eben nicht der im Führer vergegenständlichte Volkswille, der das Windrad hierhin und nirgendwo anders hin dekretiert, sondern ein repräsentatives und anfechtbares Verfahren – und was schwach scheint, sollt ihr stoßen, geht es dann offenbar, frei nach Nietzsche, zur Sache. Folgt man dieser Annahme, würden Wutbürger sich allein darum autoritätsverletzend gebärden, um die Autorität endlich aus der Reserve zu locken; sie scheinen sie provozieren zu wollen, ihre Fesseln endlich anzustreifen.
Doch könnte aus diesen disparaten Provokationen eine irgendwie geeinte autoritäre Bewegung entstehen, die tatsächlich den bundesrepublikanischen Staat dazu bringen könnte, wieder das zu werden, was er sich bislang nur als Notstandslösung vorbehält? Zumindest in absehbarer Zeit wohl nicht. Die basisdemokratischen Ausnahmezustände der letzten Jahrzehnte, von Brokdorf bis Stuttgart, scheinen immer ein wenig den Charakter von Phantomschmerzen zu haben. Denn der Führer oder wenigstens die charismatische Clique, der die autoritären Sehnsüchte personal auf sich vereint und sich den Heerscharen der Gekränkten und Hysterischen als deren maßlos vergrößertes Selbst zur Identifikation anbietet, ist und bleibt seit 1945 amputiert. Geißler und seinesgleichen sind da nur schwächliche und ferne Reprisen.
Der Wutbürger scheint vielmehr die Charaktermaske des führerlosen Faschismus zu sein, des Faschismus im Tagtraummodus sozusagen. Denn der Einzelne bleibt in seinem autoritären Wunsch buchstäblich bei sich und seinesgleichen; der chaotische Widerwille gegen „die da oben“, der sich, Adorno zufolge, erst im Judenhass überhaupt auf ein einheitliches Ziel verständigen kann, bleibt partikular und geht immer nur den ersten halben Schritt, um dann grollend zu verharren; Und weil die Synthese des autoritären Wunsches in Führerstaat und staatsoffiziellem Antisemitismus fehlt, produziert das vereinzelte Ressentiment eben auch den partikularen, den vereinzelten und rasch vorübergehenden Ausnahmezustand à la Stuttgart, den man dennoch sehr ernst nehmen sollte, stellt er doch eine Abmahnung ans herrschende Personal dar, dergestalt, dass man Windräder im Voralpenland und moderne Bahnhöfe eigentlich nur von autoritären Regimes hinzunehmen gedenkt. Die auf absehbare Zeit unerfüllt bleibende und nur symbolisch abgespeiste Sehnsucht nach einem solchen Regime scheint jedenfalls ein sehr großes Quantum in der so offensichtlich überschüssigen Wut des angegrauten Mobs in Funktionsjacken und Gesundheitsschuhen auszumachen.
Und hier liegt auch der grundlegende Unterschied zur amerikanischen Tea-Party-Bewegung. Man kann diesen Unterscheid ganz kurz in einem Satz benennen: Deutsche Wutbürger wollen in narzisstischer Symbiose mit dem Staat andere gängeln und belästigen , stockkonservative Mittelwestler hingegen wollen vom Staat nicht gegängelt oder belästigt werden , sie wollen den Staat so fern von sich und so schwach wie nur irgend möglich halten. Dabei ist diesem stockkonservativen Mittelwestler in seiner privaten und auch kommunalen Sphäre natürlich vieles zuzutrauen, insbesondere nahezu jede Art religiösen Wahns. Nur eben der deutsche Wahn der Verschmelzung der vielen zu und in einem Staatsmonstrum, bleibt definitiv und qua Selbstverständnis ausgeschlossen. Nicht umsonst nennt sich die Tea Party so, wie sie es tut, greift sie doch auf den amerikanischen Gründungsmythos der Rebellion gegen die Krone und ihre hohen Steuern zurück. Gerade die evangelikalen Aktivisten der Tea Party sind also ohne große Zweifel verrückt, reaktionär und unangenehm, aber eben – und darauf kommt es hier im Augenblick allein an – konstitutiv nicht als Schwungmasse für den autoritären Staat zu gebrauchen. Dass es sich beim deutschen Wutbürger ganz anders verhält, sollte deutlich geworden sein.
Anmerkungen:
Die Welt , 28.8.2010.
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