Im Oktober 2011 fand in Wien die von der Sonntagsgesellschaft veranstaltete Konferenz Die Kunst der Freiheit. Autonomie und Engagement nach Sartre und Adorno statt. Zweck der Konferenz war es gewesen, die Sartresche Philosophie einer vertieften Auseinandersetzung zuzuführen, um zu ergründen, ob und, wenn ja, inwiefern er zu einer radikalen Kritik der Gesellschaft etwas beizutragen hat. Leider ist dieses Ansinnen, in der Gesamtschau betrachtet, gescheitert, da nur die wenigsten Konferenzbeiträge sich überhaupt mit Sartre beschäftigt haben und es den Veranstaltern nicht gelungen ist, ihr Anliegen deutlich zu machen. Als umso dringender empfinden wir es, nun den zweiten Teil von Manfred Dahlmanns Analyse des Verhältnisses zwischen Sartre, Adorno und der Neuen Marx-Lektüre zu veröffentlichen, die sich auf eine ältere Debatte in der prodomo bezieht. Im ersten Teil hatte Dahlmann Sartres Begriff der Freiheit gegen Ingo Elbes Vorwurf der Willkür verteidigt und ausgeführt, was dieser Begriff im Handgemenge – in der Situation – bedeute. In diesem Teil geht es vor allem um den bei Sartre nicht existierenden Begriff der Form und die damit verbundene Kritik jeder Ontologie. Der dritte und letzte Teil, der in der prodomo Nr. 17 erscheinen wird, schließt Dahlmanns Überlegungen vorläufig ab.
Die Redaktion
III. Sartre und der Begriff der Form
Situation und Gesellschaft
Elbe mag ja Sartre falsch verstanden haben, damit ist aber noch lange nicht gesagt, ob überhaupt und wenn ja, was Sartre, richtig verstanden, zu einer Gesellschaftskritik beitragen könnte. Um dies zu klären, sei zunächst sein philosophischer Entwurf mit der Kritik der politischen Ökonomie konfrontiert.
Der Marxist spricht, statt von Situationen, von gesellschaftlichen Verhältnissen und untersucht die objektiven Prozesse, in die die Individuen eingebunden sind und die sie zu Subjekten erst machen – also nicht, wie Sartre, umgekehrt: wie die Subjekte 1von nahezu unendlich vielen Subjekten kreierte Situationen vorfinden, innerhalb derer sie ihre Freiheit – gegenseitig beziehungsweise gegeneinander – aufgrund von Entscheidungen negieren. Wenn Marxisten von der bürgerlichen Gesellschaft im Hinblick auf Freiheit sprechen, dann geht es ihnen um die von der Gesellschaft konstituierten Zwänge; deren Negativität ergibt sich aus der inneren Organisation der Gesellschaft – nicht aus einer, ihre Gesellschaftlichkeit transzendierenden Bestimmung im Subjekt. In welcher Variante des Marxismus auch immer: Die Gesellschaft ist das Allgemeine, das in sich die Bedingungen erzeugt, unter denen die Menschen leben, und, das ist für den Materialismus besonders der Neuen Marx-Lektüre konstitutiv, eben auch den Menschen als solchen bestimmt: sein Denken, seinen Willen, seine Bedürfnisse. Einen solchen, absoluten Begriff von Gesellschaft muss Sartre rundweg ablehnen.
Die erste Frage bezüglich dieser Gegenüberstellung der Begriffe Situation und Gesellschaft ist nun nicht, ob und welche Unterschiede in der Analyse sich aus ihr ergeben, sondern die, ob es der Gesellschaftstheorie oder -kritik gelingt, zu zeigen, dass sie ihren Geltungsanspruch nicht, wie von Sartre zu Recht als von vornherein unaufrichtig (oder als Lüge gar) denunziert, aus Transzendentalien bezieht. Ist dies tatsächlich so, würde daraus zwar noch nicht zwingend folgen, dass Sartre ihr gegenüber im Recht wäre, aber die Gesellschaftskritik wäre in ihrer Geltung zumindest in Frage gestellt. Solche Zweifel ergäben sich zum Beispiel dann, wenn sie auf einem Materialismusbegriff bestehen würde, der Objekten (wie dem Geld, dem Staat, der Gesellschaft, der Geschichte, dem Wert usw.) Eigenschaften und Beziehungen an sich zuschreibt, die nur vom Subjekt (für es) in sie hineingelegt worden sein können.
Formanalyse bei Marx I
Bei dieser Frage ist natürlich von vorrangigem Interesse, wie Marx mit diesem Problem der Beziehung der Subjekte zu den Objekten umgeht: Zu Beginn seiner Wertformanalyse im Kapital bestimmt er zum Beispiel die Erscheinungsform des Geldes als absolut geltendes, allgemeines Äquivalent für alle Waren in der Weise, dass er logisch (deduktiv) ableitet, wie diese absolute sich aus der relativen Form entwickelt, das heißt aus der Beziehung, die ein Subjekt zu der Ware hat, die es von einem anderen Subjekt erwerben will. Es ist hier gleich darauf hinzuweisen, dass Sartre weit davon entfernt ist – auch in der Zeit nicht, als er sich als Marxist begriff – solche Übergänge von einer relativen zu einer absoluten Form, ja überhaupt den Begriff der Form in der Weise zu verwenden wie Marx. Aber darauf kommt es hier noch nicht an. Entscheidend ist zunächst, dass Marx die objektive Erscheinungsweise des Geldes als etwas absolut, zeitlos Geltendes in die Relativität des Subjekts, in dessen Beziehungen zu anderen zurückbindet – also etwas tut, was Sartre generell für alle Absoluta unternimmt.
Gleiches gilt für den Begriff der ‚abstrakten Arbeit’: Diese ist vollständig bestimmt von der Form, in der das Kapital sich reproduziert, stellt die Einheit dar, deren Maßzahl die (abstrakt-physikalische, mathematisch operationalisierbare) Zeit ist, die untereinander vergleichbare Waren zu ihrer Herstellung im Durchschnitt benötigen. Der Bezug auf konkret verausgabte Arbeit ist in der ‚abstrakten Arbeit’ in gleicher Weise ‚verdrängt’ wie im Geld, auch an (oder in) ihr erscheint ihre Genesis aus der Relation von Warenbesitzern (in diesem Falle: Arbeitskraftbesitzern) nicht, sondern nur ihre absolute Form: die allgemeine Durchschnitts-Arbeit. Für Marx aber bleibt diese Arbeit – vermittelt über den Begriff der Arbeitskraft, beziehungsweise in ihrem Kern dann den der Substanz – auch in ihrer Abstraktheit an die konkrete, lebendige, empirisch nicht quantifizierbare Verausgabung tatsächlicher Arbeit durch die individuellen Subjekte gebunden. Also auch hier: Die gesellschaftliche Form, die als absolute erscheint, ist logisch zurückgeführt auf die relative Beziehung von Subjekten untereinander. 2
Last but not least: Marx geht es erklärtermaßen darum zu zeigen, wie die Subjekte Verhältnisse eingehen, besser: Beziehungen konstituieren, die ihnen als verselbständigte, absolute Macht gegenüber treten, der dieselben Subjekte sich dann als bloße Anhängsel einpassen müssen. Das Kapital erscheint als ein sich selbst reproduzierender, vom Willen, den Bedürfnissen und Gedanken der Subjekte losgelöster Prozess, als „automatisches Subjekt“, das sich, im Sinne der Kritischen Theorie formuliert, die Subjekte, die es für diese Reproduktion benötigt, selbst erschafft, als ein Selbstreproduktionsprozess also, der sich von seiner ihm zugrundeliegenden Subjekt-Subjekt-Relation quasi ‚emanzipiert’ hat.
Kapital als Form
Mag sein, dass die Autoren der Neuen Marx-Lektüre diese äußerst knappe Marx-Interpretation in einzelnen Formulierungen für korrekturbedürftig halten, im Allgemeinen dürften sie ihr aber (besonders im letzten Punkt) zustimmen und auf den ersten Blick berechtigterweise fragen, was die denn mit Sartre zu tun habe. Es klang schon an: Sartres philosophischer Entwurf verwendet, und dies wird sich als dessen größtes Manko erweisen, den Formbegriff nicht so wie Marx. Bevor wir zum ‚zweiten’ Blick kommen, wäre zu klären, welchen Stellenwert Marx diesem Begriff in der Kritik der Politischen Ökonomie zuschreibt. Hierzu wäre naiv die Frage zu stellen, was denn eigentlich die Inhalte der von Marx entwickelten ökonomischen Formen (Wertform, Warenform, Geldform, Zinsform, Lohnform usw.) sind. Die Antwort ist kurz und einfach: Es sind die Waren in ihrer Bestimmung als Gebrauchswerte – ohne die kein Ding Ware ist. Um andere Inhalte (Politik, Klassenkämpfe, Geschichte etwa) geht es ‚nur am Rande’. 3Auch und gerade die Arbeit, also die zentrale Kategorie des Abeiterbewegungsmarxismus, wird im Kapital gerade nicht als Inhalt gefasst, gar als Inhalt an und für sich – einen solchen Inhalt kann es logisch nicht geben, es gibt keinen Inhalt ohne Form – sondern in ihrer (aus dem Tauschwert abgeleiteten) Form, als Arbeitskraft, in der allein sie als Gebrauchswert für das Kapital erscheint. Das Kapital, um dessen Bestimmungen es Marx in all dem ja geht, stellt sich schließlich dar als totale, von jeder Relation zu den Subjekten losgelöste absolute Form, die erscheint, als könne sie an und für sich selbst existieren, sich alle nur möglichen Inhalte einverleiben. Präziser, etwas weniger ‚mystisch’: Eine Gesellschaft, in der sich die kapitalistische Produktionsweise allgemein durchgesetzt hat, nötigt die Subjekte, die diese Gesellschaft (und die darin als geltend anerkannten Formen) konstituieren, ihr Denken (ihr ‚Individuationsprinzip’), ihre Bedürfnisse, ihre Leidenschaften, ihr Verhalten und ihre Praxis, man kann zusammenfassend auch sagen: ihre gesamten Erfahrungen in diese vorgegebenen Formen einzupassen, wenn sie in dieser Gesellschaft überleben wollen.
In aller Deutlichkeit: So sehr Marx auch Hegelianer gewesen sein mag, er war auch Kantianer – wenn auch einer, der zeigen kann, von welchen Inhalten dessen Philosophie abstrahiert: Als Kapital hat sich das Transzendentalsubjekt, das von Kant nur als so etwas wie ein ausdehnungsloser Punkt gedacht werden konnte – der allem Denken unterstellt werden muss, damit die naturwissenschaftliche Denkform ihre Bedingung der Möglichkeit findet –, zu einer Realität ‚gemausert’, zu einem ‚Sein’, aus dem alles ‚Seiende’ erst seine ‚Existenz’ bezieht. Dieses Sein aber ist an sich selbst betrachtet: reine Form, ohne jeden Inhalt, ohne jede Erfahrung. Mit einem Wort: Es ist in Wahrheit, inhaltlich und substantiell betrachtet nichts oder logisch eben ein ausdehnungsloser Punkt.
Kaum zu glauben, dass Marx den Begriff der Form nicht als Denkform verstanden haben sollte, sondern – genau das aber legen hegelianisierende Materialisten oft zumindest nahe – als eine Form, die Inhalten, Objekten, Dingen an sich als so etwas wie deren Eigenschaft zuzuschreiben wäre. Philosophisch wäre das jedenfalls nicht nur nicht zu begründen, sondern grundfalsch. Und selbstverständlich kann für Marx, wie für jeden vernünftigen Menschen, das Nichts – dass das Ding an sich, wenn es kein Für sich hat, nun einmal ist – unmöglich Allgemein-Subjekt eines unendlichen Prozesses sein, für den die wirklichen Subjekte nichts als Objekte, also unerkennbare Dinge an sich wären. 4Außerdem, das kommt noch hinzu, generiert diese Subjekt-Objekt-Verkehrung eine Überfülle an Gebrauchwerten, die, so sehr diese ‚an sich’ nur dann Gebrauchswerte für die empirischen Subjekte sind, wenn sie sich auch als Gebrauchswerte für das Kapital darstellen können,dem Subjekt als Dinge für es gelten. Als solche werden die Waren von ihm fetischisiert, oder zumindest: libidinös besetzt, so dass es glauben kann, mit ihnen allein seien seine individuellen Bedürfnisse zu befriedigen – ansonsten wären sie wohl kaum bereit, sich für diese realmystische Verkehrung ihrer selbst herzugeben. Das Kapital als solches jedenfalls kann weder Waren noch sonst irgend etwas produzieren; Gewinne und Wachstum erst recht nicht – so sehr Volkswirtschaftler, Politiker und Manager das auch behaupten mögen; es ist seinen Metamorphosen in die Subjekte hinein auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Formen werden von Subjekten in die Dinge projiziert – wie alle dinglichen Eigenschaften – und so auch die Beziehungen der Dinge untereinander. Die entscheidende Frage ist: Welche Rolle spielt das Subjekt bei ihrer Genesis? Wie kommen welche Formen wann in sein Denken? Jetzt sind wir wieder bei Sartre: Mit der Beantwortung dieser Fragen hat er kein Problem: Für ihn spielen Formen, wie ‚Strukturen’, eine untergeordnete, nur für die Untersuchung von Situationen brauchbare Rolle. Ihm geht es darum zu zeigen, wie aus Dingen an sich – jeder einzelnen Situation entsprechend – Dinge für sich werden: im Kopf der Subjekte; woanders ist das auch nicht möglich. Die Frage, ob dies derart umstandslos eben auch für den Begriff der Form gelten kann, stellt sich ihm nicht.
Allerdings gilt festzustellen: Auch Marx stellt diese Frage nach der erkenntnistheoretischen Relevanz des Formbegriffes nicht explizit. Auf die Probleme, die das für die bisherigen Marxinterpretationen hatte, wird zurückzukommen sein. An diesem Punkt geht es darum, dass Marx im Kontext der Verwendung des Formbegriffes versucht, über allgemein Geltendes (die kapitalistische Verfasstheit der Gesellschaft) zu reden, ohne auf Ontologie zurückgreifen zu müssen. Er benötigt deshalb, anders als Sartre, keine Bestimmung dessen, was die Welt, das Ding, die Natur, der Mensch oder sonst etwas im Allgemeinen, von seiner Substanz, seiner Existenz her gesehen, sei, um über Allgemeines überhaupt erst mit dem Anspruch auf Wahrheit reden zu können. In der logischen Entfaltung der für das Kapital spezifischen Formen ergibt sich für ihn die (implizit bleibende, nicht ausgewiesene) Geltung seiner Darstellung – und kein Inhalt und erst recht nicht irgendein ‚Sein’ begründet die Wahrheit seiner Kritik der politischen Ökonomie. Unproblematisch ist sein Formbegriff aber deshalb noch lange nicht, was sich zeigen wird, wenn die Neue Marx-Lektüre direkt zum Gegenstand wird. Zuvor sei jedoch erst noch Sartres ‚Lösung’ des Geltungsproblems kritisch gewürdigt.
Sartres Ontologie
Sartre ist Philosoph, er kennt die mit dem (aristotelischen) Formbegriff verbundene, von Kant offen gelegte erkenntnistheoretische Problematik, weiß um dessen Fallstricke und so kennt er (anders als die meisten Marxisten) auch das Grundproblem, das Marx sich mit seinem Formbegriff eingehandelt hat. Er beschließt, sagen wir es derart verkürzt, aus welchen persönlichen oder philosophisch relevanten Motiven auch immer, nicht dessen Problem zu lösen, sondern das aller Ontologen: Er fasst das Ontologische, also das Sein, anders als sie bisher. Was er als ‚Sein’ bestimmt, ist die (menschliche) Existenz, der gegenüber der Einzelne so etwas wie ein ‚Seiendes’ ist. Anders als allen anderen Ontologen reicht ihm diese eine Bestimmung zur Definition seiner Ontologie, so meint er, vollkommen aus. Alles Weitere ergebe sich aus der Betrachtung des einzelnen Subjekts. Das scheint unproblematisch.
Doch genau die Lösung, die Sartre gewählt hat, um das Geltungsproblem zu lösen, wird zum Strick, an dem sie sich aufhängt. So sehr sich in Sartres Philosophie all ihre Aussagen in ihrer Geltung auf den (vereinzelten) Leib des Individuums beziehen lassen und so wenig er dennoch dazu auf anthropologische Bestimmungen zurückgreift (die ja seine ‚einfache’ Existenzbestimmung mit transzendentalen, also nicht beweisbaren Verallgemeinerungen ‚aufladen’ würden): gilt ihm doch der Mensch als so etwas wie ein Gattungswesen – im aristotelischen Sinne. Da mag er sich noch so sehr bemühen, mit seinem Begriff der Existenz den der Gattung als überflüssig erscheinen zu lassen. Der Gattungsbegriff stellt jedoch – und dies, je mehr man ihn im Unbestimmten belässt – um so mehr eine Verallgemeinerung dar. In gerade dieser Unbestimmtheit hat sie, mit dem Begriff des Kapitals (als Form; als Form aller Formen und Inhalte) und dem Begriff des ‚Seins’ (in dem Heidegger diese reine Form als Nichts und Alles zugleich behauptet zu erfassen) – und ungeachtet dessen, dass Sartre diese im Existenzbegriff gar nicht aufhebbare Verallgemeinerung, anders als Marx und Heidegger, unmittelbar als Humanum begreift – zumindest eines gemeinsam. Eine Gemeinsamkeit, die die entscheidende Schwachstelle seines philosophischen Entwurfs markiert: die Existenz des ‚einzelnen’ Menschen als Exemplar einer Gattung (des Menschen im Allgemeinen) mag noch so evident sein (auch die Existenz Gottes ist dem Gläubigen in derselben Unmittelbarkeit evident), diese Evidenz beweist dessen Existenz (die Existenz eines dem einzelnen Menschen Allgemeinen) schlicht und einfach nicht.
Bei Sartres Bestimmung des Mensch-Seins handelt es sich jedenfalls nicht um eine bloß nominalistische Definition, um eine Frage also, um die kein Streit lohnt und die als solche keinerlei Einfluss auf die Logik seines philosophischen Entwurfs hätte. Besonders in Was ist Literatur? zum Beispiel dient Sartre dieser Allgemeinbegriff vom Menschen als Letztbegründung für die Notwendigkeit eines jeden, sich für die Freiheit zu engagieren, zumindest soweit er die Literatur zu seinem Beruf gewählt hat. Die in Das Sein und das Nichts bestimmten Begriffe Freiheit, Aufrichtigkeit und vor allem der der Verantwortung werden hier, am Beispiel der Berufsgruppe der Literaten, im einzelnen ausbuchstabiert. Auffallend ist, wenn auch noch nicht so deutlich wie in seinen späteren Schriften, dass es Sartre jederzeit möglich zu sein scheint, besonders bezüglich der Verantwortlichkeit der Subjekte für ihre Entscheidungen, pragmatische Einschränkungen einzuführen, die von seinem philosophischen Entwurf so aber gar nicht gedeckt sind. 5Die Notwendigkeit für das Engagement des Literaten, das heißt: dessen Verantwortlichkeit für seine „Berufswahl“, ist für Sartre eine andere als die, die etwa einem Lokführer für dessen Engagement zuzuschreiben wäre. 6So evident diese Unterscheidung sein mag, philosophisch verhält sich die Sache bei Sartre ganz anders: Hier ist jeder Einzelne für alles, was Menschen (im Hinblick auf ihre Zukunft) entscheiden, voll verantwortlich – zumindest was die Situation betrifft, in die sie sich gestellt haben (oder gestellt worden sind). Sartre geht in seinem philosophischen Entwurf davon aus, dass ein jeder wollen muss, dass all seine Mitmenschen seine Entscheidungen mittragen, anerkennen und ihn am Ausleben seiner Freiheit so wenig wie möglich hindern, womit er im selben Maße wie für sich auch dafür verantwortlich ist, wie die Anderen sich entscheiden. Es kommt hier zum Ausdruck, dass die Grundbestimmungen, die Sartre in Das Sein und das Nichts als von einem Einzelnen ausgehend entwickelt, in ihrem existentiellen Kern und der daraus sich ergebenden Logik für alle Einzelnen in ihrer Gesamtheit gelten müssen: Dies ist unmittelbar in Sartres Begriff der (menschlichen) Existenz angelegt. Einschränkungen etwa der Verantwortlichkeit aller an irgendeinem Weltgeschehen Beteiligten lassen sich auf der Grundlage seiner Philosophie grundsätzlich nicht formulieren – und so sieht er sich vor allem in seinen politischen Schriften gezwungen, diese seine Philosophie im Interesse einer ihr widersprechenden Realität ständig pragmatisch zu relativieren.
Diese Verkehrung im Begriff der (allgemein-menschlichen) Existenz, die darin besteht, in dieser Allgemeinheit (als ‚bloßer’ Gattungsbegriff) keine Realbestimmungen (außer: sich selbst) enthalten zu sollen, im Verlauf der Entfaltung aber – unter der Hand – mit realen Bestimmungen, die die anfänglich behauptete allgemeine Geltung wieder relativieren, ‚aufgeladen’ werden zu müssen, unterläuft Sartre in derselben Weise und aus denselben Gründen wie Heidegger: Wie dieser erkennt Sartre neben dem Begriff der Form als für seine Philosophie zentralen auch den der Vermittlung nicht an. Anders als Heidegger, bei dem diese Kategorien in Sein und Zeit vollkommen verschwinden, lässt er sie zwar durchaus gelten: als so etwas wie ‚Hilfsmittel’ zur (wie er das nennt: regressiven) Analyse von Situationen. Wenn es um diese geht, dann hat er keine Schwierigkeiten, sie, sofern sie der Erkenntnis der Sache dienen, in Anspruch zu nehmen. Wo es aber um die (progressive) Beziehung von Subjekt zu Subjekt geht, auf philosophischer, der Totalität zugrundeliegenden Ebene, dort gibt es auch bei ihm weder Formen im kantschen (oder aristotelischen) noch Vermittlungen im hegelschen Sinne. Und damit entgehen ihm, wie noch genauer zu zeigen sein wird, wesentliche Bestimmungen der Realität – was sich darin ausdrückt, dass die (allgemein vorherrschende) Praxis (und oft auch seine eigene) seinen philosophischen Entwurf dementiert. In der (menschlichen) Existenz beziehen sich bei ihm Subjekt und Subjekt unvermittelt, unmittelbar, aufeinander, aber: nur je als Objekte für die Anderen; sie bilden eine (vermittlungslose) Beziehung, in der der Eine den Anderen in dessen Freiheit negiert, gar negieren muss.
Mit dieser keine (als eigenständig zu denkende) Vermittlung aus sich heraussetzenden Negativität, ist bei Sartre, anders als bei Hegel, allem Denken ein Riegel vorgeschoben, das, wie jede christlich-ethische, esoterische Fassung eines „Entdeckens des Anderen in mir“, zwischen die Subjekte einen „normativ zu begründenden Dialog“ – oder wie die Systemtheorie: Kommunikation als ‚Medium’ – schalten muss. Dies führt dann logisch zu genau den Verallgemeinerungen, deren Existenz als ein An und Für sich, durch das hindurch die Subjekte sich vermitteln und in dieser Vermittlung deren Sein bestimmen, Sartre grundsätzlich, und dies zu Recht, in Frage stellt. Aber das ließe sich auch über die heideggersche Existentialontologie bewerkstelligen – es gibt schließlich eine Verdinglichungskritik, die sich mit gutem Recht auf Heidegger berufen kann – und dieser ‚Vorteil’ wird mit dem ‚Nachteil’ – der, logisch gesehen, im Grunde weit mehr als ein bloßer Nachteil ist, sondern das ganze Gebäude zum Einsturz zu bringen droht – erkauft, die Existenz (so sehr sie zunächst auch ‚nur’ als ein quasi nominal Allgemeines gefasst worden sein wollte) mit als real behaupteten Bestimmungen aufzuladen, die als solche von der Voraussetzung her in diesem Allgemeinen gar nicht enthalten sein sollten.
Das Scheitern der Situationsanalyse
Fasst man bis hierhin den philosophischen Entwurf von Sartre zusammen, so ist festzuhalten: Das einzelne Subjekt ist frei, und weil diese Freiheit für alle Subjekte identisch gilt, sie ihre Existenz bestimmt, sind sie, die als Einzelne sich gegeneinander aufgrund ihrer Entscheidungen in dieser Freiheit unmittelbar negieren, auch als Einzelne für alles verantwortlich, was in dieser Welt geschieht. Jede Analyse von historischen Situationen, so komplex sie auch immer sein möge, hat sich in Voraussetzung und Resultat, vor und nach jeder Wesensbestimmung („die Existenz geht jeder Essenz voraus“) auf diese Verantwortlichkeit zu beziehen, so sehr auch, um das noch einmal zu betonen, jede Entscheidung von einer Vielzahl von Situationen, äußerer wie innerer Natur, noch so stark beeinflusst sein mag.
Lassen wir die oben ermittelte Problematik im Begriff der Existenz kurz beiseite: Schon pragmatisch liegt der bereits angedeutete Einwand unmittelbar auf der Hand, der dem gesamten Entwurf, so ‚wahr’ und logisch unabweisbar er ansonsten sein mag, den Garaus zu machen droht: Wenn jeder für alles verantwortlich ist, und das auch noch ohne jeden graduellen Unterschied, dann läuft dies inhaltlich auf dasselbe hinaus wie die Aussage, dass keiner für irgendetwas verantwortlich ist. Diesem pragmatischen Argument kann philosophisch und logisch nicht widersprochen werden.
Sartres Existenzbestimmung, in der der Einzelne (inhaltlich) als Exemplar seiner Gattung gilt, läuft also darauf hinaus, dass sein Entwurf im Resultat insgesamt wertlos zu werden droht. Denn die Aussage „Jeder ist für alles verantwortlich“ kann im Grunde nichts Sinnvolles bedeuten, da ihr keine (und das nicht nur logisch nicht: auch keine durch Erfahrung vermittelte) Negation, keine Differenz eingeschrieben ist. Das aber fällt auf die Freiheit natürlich zurück: Sie mag tatsächlich existieren (und wie eingangs gesagt: kein Philosoph bestreitet das), aber für die Fragen, die den Kritiker bewegen, droht sie belanglos zu werden; polemisch: ist sie nichts als die bloße ‚Freiheit’, zwei plus zwei auch fünf sein zu lassen.
Dasselbe wie mit der Verantwortlichkeit lässt sich im Hinblick auf die Verbindlichkeit der Entscheidungen der Individuen durchexerzieren. Diese Verbindlichkeit ist zunächst so absolut zu denken wie die Verantwortung: Die Negation der Freiheit durch eine Entscheidung ist nicht wieder rückgängig zu machen. Aber jede Entscheidung, so sagt uns die Erfahrung, beruht auf einer Vielzahl von vorangegangenen, wird von künftigen relativiert, ergreift mal mehr, mal weniger Macht über die Existenz. Sartres Werke nach Das Sein und das Nichts, all seine philosophischen, politischen, literarischen und künstlerischen Entwürfe können als Anwendung seiner „regressiv-progressiven“ Methode gelesen werden, der es gerade darum zu tun ist, die Einflüsse, die Entscheidungen aufeinander ausüben, dem Grad ihrer Verbindlichkeit gemäß auszudifferenzieren. Das Differenzprinzip, das principium individuationis, das Sartre hier zur Anwendung bringt, begründet er aber nicht, er macht es noch nicht einmal zu einem Gegenstand seiner Ausführungen. Hier bleibt er in seinen Situationsanalysen einer empirischen Evidenz verpflichtet, die wissenschaftslogisch einer Pragmatik folgt, die von ihrem Geltungsanspruch nichts weiß und nichts wissen will.
Das ganze Unternehmen, Sartre für die Erkenntnis von Wirklichkeit heranzuziehen, scheint gescheitert, also eigentlich überflüssig gewesen zu sein – wie schon bei Ingo Elbe, wenn auch dort aus ganz anderen Gründen. Keinesfalls kann es im Folgenden darum gehen, hier irgendetwas zu ‚retten’, was philosophisch nicht zu retten ist. Doch es sei der Versuch unternommen, zu untersuchen, was aus seinem philosophischen Entwurf dann wird, wenn man dessen Schwachstelle, die unmittelbare Identität von Besonderem (dem leiblich begrenzten Einzelnen) und Allgemeinen (die Existenz), quasi ‚aufschließt’, das heißt: Sartres Entwurf für den Einzelnen gelten lässt (und, das war zu zeigen: auf den Einzelnen bezogen ist er nicht zu widerlegen), aber den Bezug des Einzelnen zum Allgemeinen (ohne den eine Aussage über Einzelnes allerdings gar nicht möglich ist) anders fasst. Und zwar vor dem Hintergrund des Formbegriffes von Marx und der Kritischen Theorie und so, dass dann der Begriff der Verantwortlichkeit der Einzelnen für ihre Entscheidungen womöglich einen bestimmten, also nicht belanglos-allgemeinen Sinn erlangt. Worum es dabei ganz besonders gehen muss, ist, dass, so sehr sich die Beziehung der Subjekte zueinander auch als über Formen vermittelte erweisen sollte, darin nicht verloren geht, dass auch unter heutigen, kapitalistischen Bedingungen, so wie in allen Zeiten zuvor ja ausschließlich, derartig nicht durch den Wert (das Kapital), sondern (wenn überhaupt) allein die Reflexion vermittelte Beziehungen allüberall anzutreffen sind, genau so wie Sartre sie darstellt. 7Der ganze Aufwand lohnt allerdings nur, wenn man fragt, ob nicht die Neue Marx-Lektüre, aber auch die Kritische Theorie (vor allem Adornos) eine ‚Schwachstelle’ besitzt, die der von Sartre womöglich ebenbürtig ist, um dann entscheiden zu können, ob in der Gegenüberstellung dieser beiden Schwachstellen sich nicht eine der Sache verpflichtete ‚Lösung’ anbietet.
Es sollte bis hierhin deutlich geworden sein, dass diese ‚Lösung’, so sie denn existiert, nicht leicht zu haben ist, sondern ein tieferes ‚Eintauchen’ in diffizile philosophische Grundsatzfragen, vornehmlich der Kritik der politischen Ökonomie von Marx erfordert und vor allem der Materialismus der Neuen Marx-Lektüre intensiver untersucht werden müsste als bisher.
IV. Kritik der Neuen Marx-Lektüre
Formanalyse bei Marx II
Das „automatische Subjekt“, Kapital, stellt sich einem Subjekt, das diese ‚Automatik’ von außen zu betrachten vermag, als unendliche Kette einer zunächst äußerst banalen Formel dar: G–G’–G’’–G’’’ usw., also, wie es von Marx umgangssprachlich gefasst wurde: Kapital ist Geld heckendes Geld. Marx zeigt, dass in dieser Kette ein wesentliches Glied fehlt, eines, durch das hindurch aus Geld erst ‚Mehr-Geld’ werden kann. 8 Korrigiert lautet die Formel: G–W–G’–W–G’’ usw. Wie Marx derartige Formbestimmungen an das Subjekt zurückbindet, wurde schon erläutert. Dies hier in gleicher Weise vollzogen, so wäre der Sachgehalt dieser Kapitalformel, die man ‚sartrisch’ quasi als die Grundkonstellation aller Situationen bezeichnen könnte, in der die kapitalistische Produktionsweise herrscht (was Sartre aus für ihn triftigen Gründen nicht macht), folgendermaßen zu verbalisieren: Subjekte, die Geld besitzen, trennen sich davon, nicht um dafür Waren für ihren Konsum zu erwerben, sondern einzig darum, innerhalb einer gewissen Zeitspanne, 9nicht nur das von ihnen (für die Produktion x-beliebiger Waren) aus der Hand gegebene Geld, sondern mehr zurückerstattet zu bekommen.
Im Kapital, dies in aller Deutlichkeit, geht es Marx explizit vor allem anderen darum, die Bedingungen der Möglichkeit dieser wundersamen Geldvermehrung auszuweisen, die präzise das bezeichnet, was das Kapital zu einer besonderen, historisch einzigartigen gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsweise macht. Wie Marx das einlöst, ist an dieser Stelle nicht von Belang, wir können hier getrost davon ausgehen, dass ihm dies (anders als allen universitären Ökonomen bis heute) tatsächlich gelingt. Für uns entscheidender ist festzustellen, worum es Marx mit diesem Beginn seiner Untersuchungen im Kapital gerade nicht ging. Und das lässt sich unmittelbar an dieser Ausgangsformel, dieser Grundkonstellation des Kapitals, verifizieren.
Historische Voraussetzungen
Als erstes wären die historischen Voraussetzungen zu nennen, die notwendig erfüllt worden sein mussten, damit diese Formel sich überhaupt allgemein-gesellschaftlich durchsetzen konnte, das heißt, wie es möglich war, dass die Form, die in allen anderen Geldwirtschaften galt, nämlich: W–G–W, in denen das Geld reines Zirkulationsmittel war (oder für diese Zirkulation verwahrt wurde), sich in die Kapitalformel G–W–G‘ verwandeln konnte. Wenn Marx im Kapital auf geschichtliche Ereignisse verweist, dann, besonders im Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation, in illustrativer Absicht, das heißt, diese Geschichte der Entstehung von Kapital wird vom Resultat her betrachtet, nicht aus der Perspektive der Bedingung seiner (geschichtlichen und logischen) Möglichkeit.
Staatlichkeit und Souveränität
Zum zweiten gehört zu den Voraussetzungen, die Marx im Kapital ebenfalls nicht diskutiert: kein Geldbesitzer trennt sich von seinem Geld, wenn er nicht darauf vertrauen kann, dass er das Geld in voller Höhe, mit dem vereinbarten ‚Zins’ als Zusatz, als ‚Entschädigung’ für seine Bereitschaft, es anderen zu überlassen, in möglichst kurzer Zeit zurückerhält. Mehr noch – er will frei darüber entscheiden, wem er sein Geld überlässt, und will außerdem, dass er als dieser Geldbesitzer in den Möglichkeiten, sein Geld ‚anzulegen’, mit allen anderen Geldbesitzern gleichgestellt ist. So sehr diese Freiheit und Gleichheit des Geld-Marktes, und die daraus sich ergebende Konkurrenz um die höchsten Zinsaufschläge, die von Marx dann im Laufe der Untersuchung auf alle Warenbesitzer ausgedehnt wird (besonders auf die, die nur ihre Arbeitskraft in den Markt einbringen können), nur als Voraussetzung für die weitere Untersuchung gesetzt ist. Allein schon diese Ausgangskonstellation setzt den Staat voraus, der die Freiheit und Gleichheit der Geldbesitzer (und dieser, aus logisch immanenten Gründen, zuallererst; die aller anderen Warenbesitzer steht erst an zweiter Stelle) garantiert, und deren Vertrauen in die (von ihnen selbst nicht durchschaute) wundersame Geldvermehrung stabilisiert. Man kann nun, wie Adorno (und mit ihm Elbe), polemisch darauf verweisen, dass Sartre, wenn er von Freiheit spricht, nichts anderes als die Freiheit dieser Geldbesitzer vor Augen habe, was aber, wie gezeigt, ins Leere geht, da diese vom Staat formal garantierte Handlungsfreiheit begriffslogisch die Sartresche Freiheit im Subjekt allein zur Voraussetzung hat – sie jedenfalls nicht selbst ist, sondern im Gegenteil: Die vom Staat garantierte Freiheit ist der Situation zuzurechnen, dem äußeren, beobachtbaren Verhalten, nicht dem Subjekt im Inneren. Natürlich gibt es eine Verbindung von Innen und Außen auch hier – aber eben keine eindeutig festzulegende, nur eine ‚situative’. Der Begriff der „gesellschaftlichen Freiheit“, mit dem Marcuse gegen Sartre auf der Ebene dieser Geldkapitalzirkulation polemisiert, wäre jedenfalls ohne jeden Sinn, wenn die darin angesprochene Freiheit keine Bedingung ihrer Möglichkeit im Subjekt selbst hätte – aber mehr führt Sartre in dieser Hinsicht in seiner Philosophie einfach (und das ganz bewusst, siehe oben) nicht aus. 10
Die drei Parolen der französischen Revolutionäre gelten Sartre jedenfalls als hehre Ideale, die die Dilemmata allen Idealismus‘ teilen: Das sind vor allem erstens, dass Ideale bestenfalls näherungsweise zu verwirklichen sind, denn würden sie es tatsächlich, dann bedeutete das ihr Verschwinden, ihren Übergang ins Nichts, und zweitens behindert jeder Idealismus die Entdeckung der praktisch gegebenen Möglichkeiten, die menschliche Existenz in Bezug auf frei gewählte Zwecke und Mittel zu leben. Bezogen auf diese Möglichkeiten negiert die staatlich garantierte Freiheit jede wirkliche, während die Gleichheitsparole schon in sich ein Ding der Unmöglichkeit formuliert – kann das Subjekt ein anderes doch nie anders denn als Objekt wirklich zu seinem Für sich machen, was heißt: Es muss seinen Mitmenschen instrumentalisieren. Gleich sind die Menschen allein in der Hinsicht, gleich frei (verantwortlich usw.) zu sein, beziehungsweise, wie gezeigt, als Repräsentanten ihrer (menschlichen, ontologisch gefassten) Existenz.
Was die Brüderlichkeit betrifft, die Solidarität, die Gerechtigkeit, so ist auch Sartre so klar, wie es auch jedem Marxisten zumindest sein sollte, dass damit nichts anderes gemeint ist, als dass der Konkurrenzkampf, in den das Kapital die Subjekte treiben muss, idealisiert und damit erträglich gemacht werden soll. Was Sartre gerade hier, in den beiden anderen Parolen aber auch, entgeht, ist, dass es, von der Ausgangskonstellation des Kapitals aus gesehen, nicht um Inhalte geht, weder um ideale noch um materielle. Der Souverän, das Kapital, verlangt von seinem Staat lediglich die Form des freien und gleichen Tausches (vor allem der Geldware, aber ansonsten natürlich möglichst aller Waren) zu garantieren, woraus schon unmittelbar folgt, dass der Staat die Subjekte daran hindern muss, sich Waren mit Gewalt anzueignen. Sartre entgeht, aber das hat er mit den meisten Marxisten gemein, dass der Staat das ausführende Organ eines Souveräns ist, dem es um nichts anderes als die Stabilisierung und Fixierung von Formen geht, in die alle Inhalte: die Gebrauchswerte, die subjektiven Werte, die libidinösen Besetzungen, die ‚Interessen’ gegossen werden müssen.
Das Politische, die dort ausgetragenen Konflikte um einen Ausgleich der verschiedensten Bedürfnisse, ist somit der Ort, an dem dieser Übergang von Inhalt in Form in all den Fällen bewerkstelligt wird, in denen den ‚Automatismen’ der Märkte dies nicht vollständig gelingt. Daraus entsteht mit Notwendigkeit das typische Dilemma des Politischen, dass dann allüberall als ‚Politikverdrossenheit’ thematisiert wird: Der Politiker muss vor jedem einzelnen Wähler so tun, als ob er dessen Bedürfnisse (dessen Wahl, dessen Entscheidungen, seine Inhalte) als solche durchsetzt, seine wirkliche Aufgabe besteht aber darin, ihnen eine Form zu verschaffen, so dass sie sich als allgemein geltende (rechtlich zu fixierende) formulieren lassen. Als Lösung dieses Dilemmas bietet sich dann der Dezisionismus an: Dieser konstruiert einen Ort, in dem der ansonsten im Abstrakten agierende Souverän sich personifizieren kann. In ihm bündeln sich alle politischen Entscheidungen, er verkörpert dann die Einheit von Inhalt und Form, die der liberal-pluralistischen ‚Normalität’ herzustellen weder gelingen kann noch darf, will sie sich nicht selbst auflösen.
Das Problem der Geltung
Entscheidend für unser Thema ist die dritte von Marx im Kapital nicht behandelte Voraussetzung der Grundkonstellation des Kapitals: So wie es logisch unmöglich ist, aus ihrer Form ihre Genesis abzuleiten, so ihre Geltung erst recht nicht; sie ist, so wie Marx sie fasst, evident, nichts weiter. Man kann aus einer als geltend anerkannten Form alle möglichen anderen Formen ableiten, aber nicht die Geltung der Ausgangsform selber. Hier liegt die entscheidende Schwachstelle der Neuen Marx-Lektüre. 11Wo Marx logisch argumentiert, etwa bei der Herleitung der absoluten Form des Geldes aus der relativen, über die Einführung des Begriffs der abstrakten Arbeit, bis hin schließlich zum Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate und nicht zuletzt dort, wo es in der Produktion um die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Steigerung der Produktivität geht, muss Marx darauf setzen, dass der Leser die Logik, in der er seine Urteile über die in ihnen erfasste Realität fällt, für gültig erachtet, was nichts anderes heißt als dass der Leser die von Marx verwendeten Formen als dem jeweiligen Gegenstand adäquate akzeptiert. Mag ja sein, dass der Leser das intuitiv auch macht, nur ist Intuition der wohl schlechteste Grund, Urteile als richtige zu akzeptieren. Einfach gefragt: Was macht aus der Fülle der im Kapital gefällten Urteile wahre, und, falls man die dort angewendeten Logiken (denn es handelt sich um grundverschiedene) als die für die jeweiligen Gegenstände angemessenen erachtet: Was verbürgt deren Wahrheit? Oder, das Ganze noch weiter vereinfacht: Was eigentlich gewährleistet die Geltung des von Marx verwendeten Formbegriffes, in den diese Logiken, siehe oben, ja aufgehen?
Mit denselben Verfahren, mit deren Hilfe Marx die wundersame Geldvermehrung in kapitalistischen Produktionsverhältnissen auf den Begriff bringen will, ist die Frage nach der Geltung eben dieser Verfahren jedenfalls nicht zu beantworten. So wenig die Wissenschaft sich selbst begründen kann und so wenig Hegels Begrifflichkeit sich selbst legitimiert, wenn man von ihrer Geschichtlichkeit abstrahiert, so wenig können die Kategorien und Formen, die Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie verwendet, sich aus dieser Kritik selbst begründen – zu ihrer Begründung ist es unabdingbar erforderlich, die kapitalistische Grundkonstellation zu verlassen. Das aber hatte Marx so gar nicht vor, hat darüber jedenfalls nichts verlauten lassen – das war so wenig seine Absicht, wie er den Staat aus der Untersuchung der Grundkonstellation der wundersamen Geldvermehrung herleiten wollte oder er die tatsächlichen Umstände der geschichtlichen Entstehung des Kapitals hat abhandeln wollen: Dies alles ist dem, was im Kapital dargestellt wird, immer schon als geltend (oder existierend) stillschweigend vorausgesetzt.
Die Neue Marx-Lektüre und ihr ‚Sprung’ in die Objektivität
Die Neue Marx-Lektüre besteht, gegen die marxistische Orthodoxie und Friedrich Engels, zu Recht darauf, dass Marx im Kapital die Reproduktionsprozesse des Kapitals nicht historisch herleitet oder begründet. Die Marxsche Entfaltung von der einfachen zur entwickelten Warenzirkulation zum Beispiel ist allein logisch bedingt und beschreibt keinen historischen Prozess. Zuzustimmen wäre der Neuen Marx-Lektüre im Allgemeinen sowieso darin, dass die Geschichte kein Subjekt sein kann und sie auch keine ihr immanente Gesetzlichkeit kennt, aus der sich ihr Verlauf erschließen ließe.
Gerade aber weil dem so ist, wird die Frage umso bedeutsamer, wie es historisch zur kapitalistischen Gesellschaft überhaupt hat kommen können. Für den Positivismus ist die Sache einfach, weil ihm die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit geschichtlicher Ereignisse sinnlos, metaphysisch, jedenfalls unbeantwortbar ist: Was der Fall ist, das ist auch historisch möglich gewesen, denn sonst gäbe es diesen Fall ja nicht. Ob ich die Gegenwart oder die Vergangenheit erforsche ist in der positivistischen Logik dasselbe, der Unterschied besteht allein in der Perspektive und betrifft nur die Zeiträume, für die ich empirische Daten widerspruchsfrei aufeinander beziehe. Wenn der Marxismus diesen positivistischen Geschichtsbegriff übernehmen wollte – zumindest stellen sich die wenigsten der Autoren der Neuen Marx-Lektüre die Frage, wie denn ein ihrer Marxlektüre entsprechender Geschichtsbegriff im Unterschied zum Hegelschen oder positivistischen bestimmt werden müsste –, dann hätte das jedenfalls weitreichende Auswirkungen auf die Geltung der Marxschen Untersuchungen des Kapitals: Es würde begründungsbedürftig, warum dann nicht auch der Gegenstand des Kapitals: die politische Ökonomie, in der gleichen Weise durchgängig positivistisch erforscht werden sollte. Anders herum: Die Untersuchungen von Marx, die zweifellos auch, wenn auch nur in Teilen, dem positivistisch-wissenschaftlichen Denken verpflichtet sind, bedürfen einer erkenntnistheoretischen Rechtfertigung, wenn ihnen eine historische Begründung nicht zur Verfügung steht.
Genau dies aber, die erkenntnistheoretische Begründung der Kategorien der politischen Ökonomie, wird von der Neuen Marx-Lektüre strikt abgelehnt. Sie folgt darin Hegel – übersieht aber, dass dessen Begriffslogik ohne die ihr zugrundeliegende Geschichtsphilosophie – die, wie gesagt zu Recht, von der Neuen Marx-Lektüre nicht akzeptiert wird – in der Luft hängt, denn nur in der inneren Bezogenheit von Logik und Geschichte kann Hegel die Kantsche Erkenntnistheorie als überwunden behaupten. Abstrahiert man von der Geschichtsphilosophie bei Hegel, dann aber tauchen die Fragen Kants nach den Bedingungen für die Wahrheit synthetischer Urteile unweigerlich wieder auf.
Es bleibt das kaum zu unterschätzende Verdienst von Marxisten wie Hans-Georg Backhaus und Helmut Reichelt gegen die positivistisch oder geschichtsphilosophisch missverstandene Marxinterpretation darauf bestanden zu haben, dass auch und gerade die Spätwerke von Marx der Hegelschen Logik verpflichtet sind. Reichelt legt zum Beispiel dar, wie der über Adorno vermittelte hegelsche Begriff der Identität (als in sich differenzierte) die neue Marx-Lektüre – nach den endlosen sozialdemokratischen und leninistischen Verballhornungen – erst eröffnet habe.
Doch gegen sie muss darauf insistiert werden, dass bei Marx weder die hegelsche Begriffslogik noch die positivistische noch sonst eine Logik den Gegenstand seiner Kritik in einheitlicher Manier durchzieht. Welche Logik Marx wann zur Anwendung brachte, ergab sich für ihn aus der Sache, um die es im Verfolg seiner Fragestellung (die Möglichkeit zu erweisen, trotz Äquivalententausch einen Mehrwert zu erzielen) je ging.
Darüber, warum Marx weder die geschichtlichen noch die logischen Bedingungen der Möglichkeit seiner Kapitalanalyse noch den Geltungsbereich seiner Kategorien – und deren Geltungsbedingungen selbst – ausführlich erörtert hat, lässt sich nur spekulieren. Gerhard Scheit vermutet, und kommt damit der Sache wohl am nächsten, dass Marx die Bedingung der Möglichkeit der eigenen Kritik noch so geläufig war, dass er sie in der Wertformanalyse anwenden konnte, ohne zu sagen, was er eigentlich tat. Eine weitere Erklärung – wenn auch eine weniger wahrscheinliche, denn sonst sollten sich dafür Belege finden lassen –könnte darin liegen, dass Marx davon ausging, dass, wenn das zentrale Mysterium bürgerlicher Vergesellschaftung (die Entstehung des Mehrwerts) erst einmal auf den Begriff gebracht ist, sich von hier aus alle weiteren Fragen – vor allem die in seiner Ausgangskonstellation vorausgesetzte Frage nach der Rolle von Staat, Recht und Souveränität – sukzessive beantworten lassen, oder, im Falle einer Revolution, sich sowieso praktisch lösen.
Die Neue Marx-Lektüre jedoch sieht dies in ihrer (berechtigten) Ablehnung geschichtsphilosophischer und (unberechtigten) Verweigerung erkenntnistheoretischer Erwägungen grundsätzlich anders. Sie interpretiert den zutreffenden Umstand, dass Marx die anzuwendende Logik (und alle methodischen Fragen) von dem jeweiligen Gegenstand der Untersuchung abhängig macht, meist dahingehend, als müssten sich auch aus dem Gegenstand selbst die Fragen nach der Geltung der Resultate der Untersuchung beantworten lassen. Sie geht, auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, davon aus, dass die Marxschen Kategorien (und ihre Bezüge aufeinander) der jeweils in ihnen erfassten Wirklichkeit entsprechen. Polemisch, aber alles andere als unsachlich gesprochen, läuft die hier von der Neuen Marx-Lektüre unterstellte (beziehungsweise von den vorsichtigeren unter ihnen wie Helmut Reichelt postulierte) Adäquanz von Kategorie und Wirklichkeit auf das Hegelsche Diktum hinaus, dass das Wirkliche so vernünftig ist wie die Vernunft wirklich. Wenn dem aber so wirklich sein sollte, dann stellt sich unmittelbar die Frage: Was wird dann aus dem Begriff der Kritik? Denn diese hat offensichtlich keinen Platz mehr, wenn kein Punkt benannt werden kann, von dem aus das Auseinanderfallen von Vernunft und Wirklichkeit, ohne das Kritik überflüssig wäre, konstatiert werden müsste.
Helmut Reichelt, der dieses Dilemma am tiefsten durchdringt, besteht darauf, dass das Problem der Geltung der Marxschen Kategorien ungelöst ist. Für ihn ist damit die Frage weiterhin offen, wie die Subjekte die ökonomischen Kategorien – die sie als objektiven, ihnen äußeren Systemzusammenhang vorfinden, und an die sie sich halten, ohne sich dessen bewusst zu sein – als geltende in Kraft setzen. Reichelt weiß also, obwohl ansonsten Hegelianer, in dieser Frage aber im bewussten Gegensatz zu Hegel stehend, dass es (gesellschaftliche) Allgemeinheit nicht geben kann, wenn diese nicht vom (individuellen) Subjekt als für es geltende, weil von ihm konstituierte, akzeptiert wird.
So lange diese Frage ungelöst bleibt, bleibt für Reichelt 12(und dies gilt zumindest implizit für wohl alle Vertreter der Neuen Marx-Lektüre) nur eines: Als Materialist ist man gezwungen, am Beginn der Darstellung einen nicht näher begründbaren Schritt in die Wirklichkeit, so etwas wie einen ‚Sprung’ in die Objektivität hinein zu tun, um von hier aus zu sehen, wie weit man in der Analyse dann kommt.
Der Vergleich zwischen Positivismus und Neuer Marx-Lektüre fällt, was die Aussagekraft der Analysen der politischen Ökonomie anbelangt, immer zugunsten letzterer aus. Es ist evident, dass die Volkswirtschaftslehre zum Beispiel nicht annähernd erklären kann, was das Geld ist, wie Wachstum sich generiert und vieles andere mehr. Auch im Vergleich zu den wissenschaftslogischen Antinomien ist der ‚Sprung’ in die Objektivität, vor allem wenn er, wie bei Helmut Reichelt, offen problematisiert wird, zumindest eines nicht: unredlich („unaufrichtig“), das heißt, er versteckt das Problem nicht, wie die Wissenschaft, hinter einer Praxis (dem gesellschaftlichen Experiment), in der sich das Verhältnis von Geltung und Norm verkehrt – das heißt, anders als diese Wissenschaft tritt die Neue Marx-Lektüre nicht mit dem Anspruch auf, der Praxis die geltenden Gesetze (ex ante) vorgeben zu können, aufgrund der sie als richtige Praxis erst möglich werde, wobei in Wirklichkeit aber erst eine erfolgreiche Praxis dieser Wissenschaft die Geltung ihrer Theorien (a post) zu beweisen vermag.
Aber all das kann nichts an dem Grundproblem ändern: Etwas anderes als den Appell an Evidenz in der Übereinstimmung der Marxschen Kategorien mit der Wirklichkeit bleibt der Neuen Marx-Lektüre, wie man im Grunde auch zugibt, nun einmal nicht. Doch mit einem solchen Appell ist einer auf Wahrheit zielenden Kritik der Boden entzogen. Die Neue Marx-Lektüre mag gut hergeleitete Abhandlungen liefern, sie bleiben aber Theorie, die in Konkurrenz zu anderen Theorien steht, und die Entscheidung für die eine gegen die andere bleibt letztlich den Subjekten selbst überlassen. Und zwar, ganz im Sinne Sartres, ihrer freien Wahl – denn vernünftige Begründungen, die ihm diese Wahl abnehmen könnten, gibt es nicht, sondern nur die subjektiv-beliebige Evidenz; im Grunde also: Es gibt als Grund für die Akzeptanz des Materialismus der Neuen Marx-Lektüre nur eine Entscheidung aus Freiheit und nicht aus Vernunft.
Um der Neuen Marx-Lektüre gerecht zu werden, ist ihr desweiteren zuzugestehen, dass deren Materialismus, ihr ‚Sprung’ ins Objektive, nicht, wie die Systemtheorie und (auch an diese anschließend) der Poststrukturalismus, das Subjekt zum Verschwinden bringt. Im Gegenteil. Dass die Waren nicht selbst zu Markte gehen können, ist ihnen so selbstverständlich wie schon Marx. Das Subjekt und sein Denken ist Voraussetzung wie zentraler Gegenstand ihrer Untersuchungen. In Frage steht allerdings, an welchem Ort und in welcher Weise sich die zentralen Begriffe generieren, in denen diese Subjekte sich und ihre Welt begreifen. Das vom orthodoxen Marxismus zu einer seiner Prämissen aufgeblähte Diktum von Marx, dass es das (gesellschaftliche) „Sein“ sei, das „das Bewusstsein bestimme“, wird von ihnen durchaus nicht in gleicher Weise absolut gesetzt wie von jenem, nicht ontologisch verstanden, sondern in den historischen Kontext gestellt, in den es gehört. Denn, insoweit hat obiges Diktum ja Recht: Theorie stellt nichts anderes vor, als eine der geschichtlich gegebenen Möglichkeiten, die jeweilige Zeit in Gedanken zu fassen. Es gibt keine geschichtslosen, nicht von der gegebenen geschichtlichen Situation bestimmte Gedanken, in diesem Punkt stimmen Sartre und die Neue Marx-Lektüre sogar explizit überein. Es kann ebensowenig geleugnet werden, dass die Zusammenfassung von Gedankeninhalten sich nur höchst selten einer eigenständigen Leistung der Subjekte verdankt, sondern, und das nicht nur in ihren Grundzügen, gesellschaftlich vorgegeben wird. Wie sonst sollte man sich den Umstand erklären können, dass verschiedene Individuen, wie immer auch in bestimmte Gruppen, Schichten, Klassen differenziert, die gleichen Interessen haben, dieselben Rationalisierungen dafür entwickeln, kurz: dasselbe denken?
Es geht jedenfalls nicht darum, diese Phänomene zu marginalisieren oder gar zu leugnen, sondern um die Frage, ob man solcherart Evidenz einfach stehen lässt und über diese evidente Identität im Denken vieler Individuen den ‚Sprung’ ins Objektive plausibilisiert, oder nicht doch nach einem erkenntnistheoretischen Weg sucht, der dem Materialismus eine schlüssige Begründung zu liefern vermag. Diesen Weg für von vornherein unmöglich zu erklären, dürfte die schlechteste aller Möglichkeiten sein, zumal, wie sich auch mit Sartre zeigen lässt, gerade in diesem ‚Sprung’, in dieser Verschiebung vom individuell Besonderen in ein gesellschaftlich Allgemeines (so evident letzteres erscheinen mag) eine Problematik steckt, die zu ignorieren in mehr als nur fahrlässiger Weise gerade das Zentrum verfehlt, um das es einer Kritik gehen muss: die Subjekte darauf zu stoßen, dass sie mit derartigen Verschiebungen sich der Verantwortlichkeit für die Geltung des verkehrten Ganzen entledigen wollen. Dass dieser Weg die Evidenz, dass Denken sich immer nur als längst verallgemeinertes vollzieht, auch gerecht werden muss, und nicht nur das: auch diese Evidenz auf nachvollziehbare Gründe zurückzuführen hat, steht außer Frage. Um dies leisten zu können, müssen wir die Neue Marx-Lektüre verlassen und – über einen kleinen Umweg – endlich auf Adorno zu sprechen kommen.
Adornos Subjektbegriff
Heideggers Sein und Zeit beschreibt den verewigten Zustand eines sich selbst reproduzierenden Prozesses, in dem alle Relativität des Seienden sich auf ein absolutes Ziel hin orientiert: das Dasein als offenbartes Sein (zum Tode) zu begreifen. Hier ist jede Subjekt-Objekt-Beziehung nicht nur aufgehoben, sondern tatsächlich verschwunden. Die Kontingenz der Subjekte reduziert sich auf die einzige Alternative, sich in „Seinsvergessenheit“ zu verlieren oder sich dem im Dasein (in der Frage nach dem Sein) erhellenden Sein hinzugeben. 13In Heideggers Sein und Zeit kommt das Kapital zu sich selbst, bringt es sich auf den Begriff – und nicht schon in Hegels Geist: Der war bloße Durchgangsstation.
Gegen ein derartiges Begreifen von Gesellschaftlichkeit als eines von den realen Subjekten abgelösten Prozesses, in dem diese, statt Akteure zu sein, bloße Momente seines Funktionierens sind, 14erhebt Sartre mit seinem Begriff der Situation in aller gebotenen Massivität Einspruch. Man kann es auch anders, pathetisch ausdrücken: Der Menschheit fehlt schlichtweg die Zeit, noch einmal abzuwarten, bis sich die Selbstreproduktion des Kapitals noch einmal praktisch als das erweist, was sie von vornherein ist: eine in sich wahnwitzige Veranstaltung von Subjekten, die ihre Freiheit, und die ihnen daraus erwachsende Verantwortung, seelisch nicht ertragen wollen oder können, und die deshalb aus Angst vor ihr sich selbst aufgeben und ihr Ich, ihre Reflexionsfähigkeit, dem Kapital übertragen, ganz so wie der Volksgenosse sein Über-Ich auf den Führer, und bei einem seiner nächsten Zusammenbrüche sich selbst auslöschen. So legitim und bis zu einem gewissen Grade auch notwendig es ist, um die Funktionsbedingungen dieses Wahns gedanklich reproduzieren zu können, auf die hegelsche Form der Darstellung zurückzugreifen, das heißt sich in das Zentrum dieses Prozesses hinein zu versetzen und von hier aus zu beschreiben, umso notwendiger wird es, Hegel, das heißt: diese Form der Darstellung, immer mal wieder „vom Kopf auf die Füße zu stellen“, also die als Kapital erscheinende abstrakte Selbstreproduktion als von Subjekten so, in dieser fetischisierten Verkehrtheit, gewollte 15Form von Reichtumsproduktion darzustellen.
So gut begründet eine Darstellung des Kapitals also intendieren mag (oder eventuell auch sollte), nicht mehr sein zu wollen als dessen Selbstbeschreibung, die Differenz zwischen dem Beschriebenen und dem Beschreibenden ist unaufhebbar, in ihr reproduziert sich auf anderer Ebene der prinzipiell in gleicher Weise unaufhebbare Unterschied zwischen Ding an sich und Ding für sich, zwischen Mensch und Natur, Subjekt und Objekt. Will ich nicht, wie der Existentialontologe, schlicht leugnen, auf diese Differenz zu reflektieren (denn ohne diese Reflexion könnte ich sie noch nicht einmal auch nur benennen), will ich also nicht unaufrichtig sein, dann bin ich unmittelbar aufgefordert (mindestens) eine Bestimmung anzugeben, die dieser Unterscheidung zugrunde liegt, die sie ‚definiert’. Und schon befinden wir uns mitten im Grundgedanken Adornos: dem Nichtidentischen. Sartres Antwort läuft – so meine These – auf diese Antwort Adornos hinaus, setzt sie voraus: Sein philosophischer Entwurf liefert allerdings darüber hinaus noch eine Reihe positiver Bestimmungen desjenigen, der das Nichtidentische ‚denkt’.
Zu fragen ist zunächst, welche Gründe Adorno eigentlich ins Feld führen kann, sich solcher Subjektbestimmungen wie denen Sartres zu enthalten. Denn wie oben immer wieder deutlich gemacht werden konnte: Eine Fetischisierung, eine Verdinglichung dieses Subjekts findet bei diesem einfach nicht statt. Ganz im Gegenteil. Auch im Ästhetischen nicht: Ein ‚Abfeiern’ des Individuellen, in Anknüpfung etwa an einen Geniekult, eine Idolatrie irgendwelcher Kultobjekte – all das also, was das Individuum durch Hypostasierung in Adornos Sinne wieder dementiert und Adornos Ablehnung positiver Aussagen über das Subjekt, vollkommen zu Recht natürlich, motiviert –, ist bei Sartre auch beim bösesten Willen nirgendwo aufzufinden.
Es, dieses Subjekt, lässt sich mit Sartre – ganz im Sinne von Marx, aber nun als ein bestimmtes (freies, verantwortliches) – darauf stoßen, dass es selbst es ist, das in jedem Augenblick darüber entscheidet, das Kapital als solches am ‚Leben’ zu erhalten: Denn das Kapital hat natürlich kein Leben, es bewegt sich noch nicht einmal, hat weder Automatik noch ist es Subjekt, existiert nicht in der Zeit: All das wird ihm von den Subjekten zugeschoben und zugeschrieben. Diese Subjekte lügen damit und sind darin die legitimen Nachfolger aller Gläubigen, die, um ihre Angst vor Einsamkeit und Ausgeschlossenheit aus der Gemeinschaft zu bändigen, sich einen ihnen gemeinsamen Gott halluzinieren – und das, jeder Monotheist weiß das, gelingt umso erfolgreicher, je namen- (und bild)loser dieser Gott agiert; für das Kapital gilt dies erst recht.
Es stimmt, Sartre kann nicht erklären, wie die Beziehungen der Subjekte zueinander eine Form generieren, die, als verselbständigte und verabsolutierte, ihnen als eigendynamische Macht gegenüber tritt. Ihm fehlen, wenn er moderne Gesellschaftlichkeit erfassen will, die dazu notwendigen Kategorien. Was das Wesen des Geldes im Kapitalismus ausmacht, was den Staat des Kapitals im Kern bestimmt, ja ein Begriff, der erfasst, was das Kapital seinem Wesen (sartrisch: seiner Essenz) nach überhaupt ist, das entzieht sich seinen Situationsbestimmungen. So sehr auch Formen nur im Denken existieren, so sehr macht es aber einen Unterschied, ob auch außerhalb der Subjekte ein Raum (eine Konstellation), eine politische Ökonomie existiert, in der genau diese Formen auch noch eine verdinglichte, institutionalisierte Gestalt annehmen. Auf den Begriff der Freiheit bezogen (und für den der Gleichheit gilt dies analog) bedeutet das: Die existentielle Freiheit, von der Sartre spricht, muss sich, um sich in der Welt des Kapitals ausleben zu können – im Unterschied zu allen anderen Beziehungen zwischen den Subjekten zu anderen Zeiten, in denen sie sich unvermittelt gegenüberstanden 16 –, in eine ‚objektive’ Form einfügen, eine Form, die zwar nur in einem besonderen Kopf erkannt und nur von ihm als Subjekt inhaltlich ausgefüllt werden kann, aber in einer Eindeutigkeit fixiert, ‚definiert’, objektiviert ist, dass ihm und seiner Freiheit die Möglichkeit, verändernd auf sie einzuwirken, spontan als unmöglich erscheint, eine Möglichkeit, die ihm, etwa in Bezug auf die konkrete Ausgestaltung seiner Triebökonomie (bezogen auf diese Konstellation), ansonsten durchaus umfassend verbleibt.
So schwerwiegend dieses Manko Sartres, zwischen subjektiven und objektiven (Gedanken ) Formen nicht zumindest ebenso streng zu unterscheiden wie zwischen Ding an und Ding für sich, auch sein mag: Hierzu wäre zum einen anzumerken, dass Marxisten, denen dies gegenwärtig ist, äußerst rar gesät sind und selbst Adorno, was die politische Form der Gesellschaft (ihren Staat und die Souveränität des Kapitals) betrifft, sich, ganz anders als in der Ästhetik, nur sehr allgemein geäußert hat. Zum anderen sei daran erinnert, dass Sartres in Das Sein und das Nichts formulierter Entwurf mitnichten ausschließt, über die im Kapital sich konstituierenden Verkehrungen und die mit seinen Institutionalisierungen verbundenen Verselbständigungen zu sprechen – wenn sichergestellt bleibt, dass diese sich nicht, wie in jedem Strukturalismus der Fall, auf Transzendentalien berufen, die die Verantwortlichkeit der Subjekte für diese Verkehrungen im Nichts verschwinden lassen.
Mit den hier vorgelegten Ausführungen soll keineswegs einer Übernahme der Philosophie Sartres, die eine Abkehr von irgendwelchen Essentials Kritischer Theorie einschlösse, das Wort geredet werden. Sartres politische Situationsanalysen bleiben, da ihnen ein historisch spezifizierter Formbegriff fehlt, trotz einiger hellsichtiger Momente allzuoft in platten Identifizierungen mit den jeweils angesagten Bewegungen stecken. Es gehört aber schlicht zur Redlichkeit des Ideologiekritikers, ihn gegenüber falschen Vorwürfen seitens der Kritischen Theorie zu verteidigen – zumal deren Vertreter, wie festgestellt, oft selbst im Glashaus sitzen: Wer, wie etwa Moishe Postone, über Dutzende von Seiten hinweg die Eigendynamik des Kapitals erklären will, ohne auch nur ein einziges Mal darauf zu sprechen zu kommen, in welcher Form die Subjekte für diese sorgen, vertritt einen Formbegriff, der von der ihm zugrundezulegenden Übertragung subjektiven Denkens in eine ontologisch (miss ) verstandene Objektivität nichts weiß, einen Formbegriff, wie er etwa auch in den Naturwissenschaften vorzufinden ist, und der logisch an seinem Ende in der Existentialontologie zu versinken droht.
Sartre zeigt, ohne dass man irgendetwas von dem zurücknehmen müsste, was Adorno über die Stellung der Subjekte im Kapitalverhältnis gesagt hat, dass diesen Subjekten auch positive Bestimmungen zugeschrieben werden können, Bestimmungen, die, so sehr sie auch (in ihrer Gegenwartsbezogenheit) durch das Kapital geformt sind, als existentielle (also über alle Geschichte hinweg) nicht negiert werden können oder auch nur dürfen – wenn man dabei, was ja auch ansonsten jederzeit eine Selbstverständlichkeit sein sollte, die Gefahren vor Augen behält, vor denen Adorno zu Recht warnt. Wer zum Beispiel die Existenz als Mensch zum Existentialismus verallgemeinert, der ist dieser Gefahr schon erlegen. Aus dieser Existenz kann (und darf) keine systemische Philosophie, keine auch nur in Gedanken bruchlos reproduzierbare Totalität herausgeschlagen werden. Eine Darstellung des Kapitals als logisch ineinander greifender Zusammenhang verschiedener Kategorien, und sei es als ‚Dialektik’ wie in der Neuen Marx-Lektüre zumindest projektiert, verfehlt dessen Charakter als einen in seinem Wesen negativen aber auch. Wer keine Subjekte, besser: keine menschlichen Individuen kennt, die als dem Kapitalverhältnis äußerliche, es erst konstituierende zumindest gedacht werden müssen, der geht früher oder später Heidegger, das heißt der deutschen Ideologie auf den Leim.
Anmerkungen:
Sartre unterscheidet nicht zwischen Mensch, Individuum, Subjekt usw.: Diese Bestimmungen sind untereinander nahezu gleichbedeutend und gehen im Begriff der (menschlichen) Existenz auf. In der Einleitung zu Der Idiot der Familie (S. 7) schlägt Sartre vor, statt vom Individuum vom „einzelnen Allgemeinen“ zu sprechen. So präzise dieser Ausdruck auch das bezeichnet, was Sartre unter Mensch-Sein versteht, umso deutlicher wird aber auch, wie sich im Anschluss zeigen wird, das Grundproblem seiner Philosophie: Denn es wäre ja gerade für dieses ‚einzelne Allgemeine’ zu klären, wie sich in ihm einzeln Besonderes in Allgemeines übersetzt. In Frage steht somit, ob Sartre hier nicht den gleichen ‚Kunstgriff’ wie etwa Habermas anwendet, wenn dieser von „kommunikativem Handeln“ spricht: Mit diesem Ausdruck mogelt letzterer sich um die doch wesentliche Aufgabe herum, darzustellen, wie das eine sich in das andere transformiert.
↩Aus diesem Rückbezug auf die handelnden Subjekte ergibt sich erst der politische Charakter der Marxschen ökonomischen Kategorien – ohne diesen Bezug würde es sich bei ihnen, wie auch in den ökonomischen Wissenschaften, um nichts als nominale Konzeptualisierungen handeln und von einer Kritik einer politischen Ökonomie könnte keine Rede sein.
↩Man kann, dies vorausgesetzt, auch sagen: Sartre ist auf dieser politischen Ebene weit mehr der Philosophie von Marx verpflichtet als er selbst es auch nur ahnen kann, denn eine andere Interpretation von Marx als die leninistische – die das Objektive verabsolutiert, statt es als Beziehung zwischen Subjekten zu fassen – liegt außerhalb seiner Vorstellungswelt. Zwar können seine Situationsanalysen, wie hier zu zeigen ist, die zentralen Resultate von Marx nicht nachvollziehen, aber sein philosophischer Entwurf schließt vom Prinzip her in der Rückführung aller Absoluta auf Subjektrelationen, keineswegs eine Vereinbarkeit mit Marx von vornherein aus. Diesbezüglich hat Sartre zunächst einmal schlicht ein anderes Thema als Marx. Diesem geht es um die Objekt-, jenem um die Subjektkonstitution in diesen Relationen.
Korrekter: Diese Inhalte stellen Verweise auf die Totalität dar, in die die ökonomischen Kategorien natürlich zu stellen sind. Sie wären im Verlauf einer Gesamtdarstellung des Kapitals also noch einzuholen.
↩Genau das wäre aber die Konsequenz, wenn man den ansonsten nicht zu widerlegenden Analysen von Stefan Breuer (Die Krise der Revolutionstheorie. Negative Vergesellschaftung und Arbeitsmetaphysik bei Herbert Marcuse, Frankfurt/Main 1977) und Wolfgang Pohrt (Theorie des Gebrauchswerts. Oder über die Vergänglichkeit der historischen Voraussetzungen, unter denen allein das Kapital Gebrauchswert setzt, Frankfurt/Main 1976) auch in der Hinsicht Recht geben will, dass das Kapital von den Subjekten aus nicht mehr zu erkennen ist, in denen es sich als die einzige Instanz setzt, die das Identische, von dem aus sie ‚ihre’ Gebrauchswerte setzen, vollständig bestimmt. Und umgekehrt: Wo das (empirische) Subjekt auch sich selbst (als solches, das dies tut, als solches, in dem das geschieht) nicht mehr erkennen kann. Dass hiermit von beiden – auch wenn man sie so interpretiert, dass sie (subtil oder subversiv) auf das Nichtidentische provozieren wollten – den Postmodernen, die sich für Nachfolger der Kritischen Theorie halten (Stichwort: Tod des Subjekts) so etwas wie einen Freifahrtsschein geliefert wurde, ist ihnen, wenn auch nur in der Form der Darstellung, durchaus anzulasten.
↩Derselbe Vorwurf in anderer, umgekehrter Hinsicht, aber mit weit größeren Folgen, kann auch Sartre nicht erspart werden: Die theoretische Unbestimmtheit, in der er seine Situationsanalyse belässt, ‚schreit’ förmlich nach einer soziologischen Komplexitätsreduktion – die umso strukturaler, ontologischer ausfallen muss, je mehr Sartre gerade ihre transzendentale Erschließung für unmöglich erklärt.
Man kann das auch so sagen: der Politiker Sartre ist, nicht nur in der Politik, wie er am Beispiel der Résistance, siehe oben, noch einigermaßen verständlich darzulegen vermag, sondern auch in seiner Philosophie ständig der Versuchung erlegen, sich als Philosophen zu dementieren.
↩
Man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, dass dieser Lokführer bei Sartre von diesem Engagement prinzipiell ‚befreit’ ist – eine Einschränkung, die auf die Unterstellung hinausliefe, Sartre hätte Das Sein und das Nichts nur für Literaten geschrieben. Also auch etwa für die Palästinenser nicht, denn die nimmt er in den 1960er Jahren von der Verantwortung für ihre soziale Misere vollständig aus, im Gegensatz zu den Arbeitern etwa im ‚Westen’. (Deren Untergang ist wie das ihrer Unterdrücker, folgt man dem Vorwort zu Fanon, eine von der Geschichte (!) ‚beschlossene Sache’.)
↩
Es gibt, ohne jeden Zweifel, zum Beispiel in einer ‚Zweierbeziehung’, etwa zwischen Mann und Frau, nicht wertvermitttelte Bindungen, reflexionslose gar wie die zwischen Hund und Herrchen, die man nicht außer acht lassen kann, solche, die der Behaviorismus tatsächlich erfassen kann, also solche, die sartrisch, also ohne ein hinzutretendes, ‚autonomes’ Drittes ‚vermittelt’ sind – etwa durch das Begehren. Weil dem vernünftigerweise anders sein sollte, und, wie die Vermittlungen durch das Kapital hindurch beweisen, vom Prinzip her wenigstens auch anders möglich sein könnten, heißt leider nicht, dass es auch anders ist. Im Gegenteil: Die Totalisierung der Familie in den Soaps zum Absoluten zeigt an, dass das Kapital gerade auch das in Unvermitteltheit Gehaltene zu würdigen weiß. Ganz besonders die Familie suggeriert, wie Gerhard Scheit feststellt, es gäbe so etwas wie einen gemeinsamen Leib – der Weg zur Volksgemeinschaft ist von hier aus, wäre hinzuzufügen, nicht mehr weit.
↩Dies allein schon stellt eine erkenntnistheoretisch hoch problematische Voraussetzung dar, auf die an dieser Stelle nur hingewiesen werden soll.
↩
Die vielfältigen Versuche von Marx, den Einfluss der Umlaufgeschwindigkeit des Kapitals (als Geldkapital) auf die Realisation des Mehrwerts zu ermitteln, beruhen im Wesentlichen auf diesem subjektiven Bedürfnis der (Geld ) Kapitalbesitzer, die Zeitdauer, in der sie ihr Geld aus der Hand geben, möglichst klein zu halten (ohne damit die Höhe ihres Zinses zu gefährden). Also auch hier: Marx führt objektive Prozesse auf die Bedürfnisse von Subjekten zurück. Jedenfalls: den Zeitfaktor (dass er gegen Null tendiert) als Moment der Kapitalreproduktion als solchen zu betrachten, ginge an der Sache vorbei.
↩Marcuse mag, ohne es zu sagen, etwas ganz anderes meinen als die ‚Freiheit’ der Nation, beziehungsweise des Volkes. Mag auch sein, dass es Verallgemeinerungen gibt, wie einen bestimmten Begriff von Gesellschaft, die einen vom Subjekt unabhängigen Realitätsstatus haben, aber eines kann man derartigen Transzendentalien, egal wie man sie an die Subjekte zurückbindet, auf keinen Fall zusprechen: Freiheit. Also auch der Gesellschaft nicht, was auch immer man darunter verstehen mag.
↩Wobei kaum behauptet werden kann, dass die Neue Marx-Lektüre im Sinne des zuvor Ausgeführten Untersuchungen vorgelegt hätte, die die Form Staat auch nur annähernd so präzise erfasst hätten wie etwa Johannes Agnoli (leider in der gebotenen Deutlichkeit meist nur mündlich), vom Begriff der Souveränität ganz zu schweigen (und auch Darstellungen zur Genesis des Kapitals, die auch nur ansatzweise den eigenen Ansprüchen genügen würden, sind mir nicht bekannt).
↩Es ehrt Reichelt natürlich, wenn er Fragen, die er nicht beantworten kann, offen lässt – und dabei in ständigen Kreisbewegungen die verschiedensten Antwortmöglichkeiten durchspielt, zu seinem Bedauern aber immer wieder feststellen muss, zu demselben Ergebnis zu kommen: mit jeder denkbaren Antwort landet man entweder im Subjektivismus, der keine Antwort für die objektive Geltung der Marxschen Kategorien, insbesondere der des Werts geben kann, oder eben im Objektivismus, der sich selbst (bis jetzt jedenfalls noch) nicht als geltend begründen kann.
↩Der Grund für die Unlösbarkeit dieser Frage (das gilt auch für Hans-Georg Backhaus und die Neue Marx-Lektüre generell) liegt bei ihnen darin, dass man einerseits weiß, dass die Objektivität des Werts, will man den Boden der Marxschen Kategorien nicht verlassen, an die Arbeit binden muss, andererseits auch bei intensivster Lektüre der Schriften von Marx nicht erfährt, wie diese Anbindung dann wieder in das Subjekt zurückzuführen wäre. Oder anders: die Synthesis der Gesellschaft als eine durch den Wert gestiftete kapitalistische darf (für die Neue Marx-Lektüre) weder die Genesis noch die Geltung dieses (objektiven) Werts aus dem Tausch ableiten, sondern muss ihn, um dem Subjektivismus zu entgehen, irgendwie, man weiß allerdings nicht wie, auf Arbeit gründen. Dies kann man als Prämisse der gesamten Neuen Marx-Lektüre betrachten. Dass dieses Dilemma der Neuen Marx-Lektüre mit einem missverstandenen Begriff von Substanz zu tun hat, ergibt sich aus dem Zusammenhang meiner Argumentation weiter unten.
Der von Adorno und von Marcuse gegen Sartre erhobene Dezisionismusvorwurf, mit dem sie ihn doch tatsächlich mit Carl Schmitt auf dieselbe existentialontologische Stufe stellen wollen, ist schon deshalb absurd, weil Carl Schmitt über Souveränität, den Zusammenhang von Regel und Ausnahme, die Rolle des Krieges und vieles andere mehr, Wahrheiten über die Form des Kapitals hat aussprechen können, zu denen Sartre jeder Zugang fehlte – gerade weil ihm die Schmittsche Existentialontologie vollkommen abging.
↩Absurd, und das schon auf den ersten Blick, ist dieser Vorwurf aber vor allem deshalb, weil im Dezisionismus alle Entscheidungsfreiheit auf eine einzige ‚zusammenschnurrt’: die Führerschaft des Seins, im Führer repräsentiert, (freudig) anzunehmen oder sich von ihr zu distanzieren, und sich damit aus dem Sein quasi ‚auszuklinken’.
So sehr die heutigen ‚Funktionsmonaden’, als welche die Subjekte aktuell agieren, mit Robotern gleichgesetzt werden können – sie sind keine, denn Roboter reflektieren nicht – so wenig mit Tieren. In diesem Sinne ist auch der Ausdruck „lebendige Leichname“ von Adorno für diese Funktionsmonaden schief: lebendig ist sogar das Tier, aber ein Leichnam nicht mehr. Am besten noch scheint mir der Brochsche Begriff vom „Dämmerungszustand“ das Niveau des Bewusstseins zu kennzeichnen, auf dem gerade auch die sogenannten Führungseliten heute agieren.
↩Man muss bei dieser Frage danach, inwiefern man auch hier von einem ‚Wollen’ sprechen kann, anders vorgehen als Sartre, der von solchen Verkehrungen keinen Begriff hat. Man kann sich hier durchaus ein Beispiel an Daniel Goldhagen nehmen, wie dieser (durchaus an das Vorgehen Freuds erinnernd) die empirischen Indizien ermittelt, die belegen, dass die Deutschen das, was sie getan haben, auch haben tun wollen, allerdings befreit von dem wissenschaftstheoretischen Konzept, in das Goldhagen seine Daten einbettet – das läuft im Resultat darauf hinaus, wie bei Goldhagen ja auch geschehen, doch noch alles relativieren zu können, was zuvor an Richtigem gesagt worden war.
↩Genau in dem Sinne, wie Sartre dies, wohlgemerkt, dies sei zur Betonung wiederholt, zu einem Zeitpunkt analysiert, als die kapitalen Formen zusammengebrochen waren: als unmittelbare Konfrontation des Subjekts mit Subjekten, die sich gegenseitig als Objekte instrumentalisieren müssen, sich aber auf einen Weg zu begeben hätten, der dies erträglich gestalten kann.
↩Download der gesamten Ausgabe:
PDF | EPUB | Kindle/MOBI | RSS