Ausgabe #15 vom

Sartre, Adorno und die Neue Marx Lektüre

Haben Marxisten Angst vor der Freiheit? (Teil 1)
MANFRED DAHLMANN

Anlass der vorliegenden Arbeit ist ein Prodomo-Artikel von Ingo Elbe [1], in dem dieser, ausgehend von Sartres 1944 verfasster Schrift Überlegungen zur Judenfrage, dessen, wie er das nennt: „Antisemitismustheorie“ damit zu Fall zu bringen versucht, dass er die dieser Schrift zweifelsohne zugrunde liegende Existenzphilosophie Sartres in ihren Grundlagen für falsch erklärt. Was im Resultat davon zu halten ist, hat Tjark Kunstreich in seiner Replik auf Elbe [2] in einer Weise zum Ausdruck gebracht, der von mir nichts hinzuzufügen ist. Ungewollt hat Elbe in seinem Artikel aber eine Position bezogen, die von vielen, wahrscheinlich sogar allen Autoren, die der ‚neuen Marx Lektüre‘ (NML) zuzurechnen wären, zumindest intuitiv geteilt wird: Sartre ist ein ‚toter Hund‘, dessen Philosophie ist zutiefst subjektivistisch, sie bietet Materialisten keinerlei Handhabe zur Lösung ihrer (Theorie-) Probleme. [3] Im vorliegenden Artikel wird gezeigt, dass diese Position jeder sachlichen Begründung entbehrt, und nur darauf beruhen kann, sich mit Sartre nicht wirklich auseinandergesetzt zu haben. Sie stellt damit ein Ressentiment reinsten Wassers dar, und weil Elbe es unternommen hat, dieses Ressentiment ins Philosophische zu wenden – anders kann man seine Versuche, Sartre zu kritisieren, nicht charakterisieren – wird er im Folgenden als Repräsentant der NML behandelt, an dem man stellvertretend deren Unterstellungen revidieren kann.

Wenn es aber nur darum ginge, einem falsch Beschuldigten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wäre dies in wenigen Zeilen zu erledigen gewesen, würde jedenfalls den Aufwand kaum rechtfertigen, in dem Sartre im folgenden Artikel der NML und Adorno gegenübergestellt wird. Es geht – und das ist, wenn man sich wirklich auf Sartre einlässt, kaum zu vermeiden – um Grundsätzliches, um ‚sehr‘ Fundamentales, um das Fundament der Reproduktion der Wirklichkeit im Denken überhaupt.

Unser Denken ist, um in medias res zu gehen, längst dermaßen in „Teil-Totalitäten“ (ein sehr treffender Begriff Sartres) [4] aufgegangen, dass wir äußerste Schwierigkeiten haben, den einzigen Gedanken, der in der Kritik von Georg Lukács an dem verballhornten Marxismus der 1920er Jahre auch heute noch ungeschmälert Geltung hat, nachzuvollziehen – nämlich den, dass Erkenntnis wertlos ist, wenn sie sich nicht auf Totalität bezieht, was heißt, wenn sie es nicht vermag, sich als Moment eines Ganzen darzustellen, es ‚auf den Begriff‘ zu bringen.

Die Autoren der NML haben vor allem anderen eines gemeinsam: die Rekonstruktion der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie ist zentraler Bezugspunkt all ihrer Überlegungen. Dabei geht es ihr natürlich auch um Marx-Philologie (gegen die selbstredend an sich gar nichts einzuwenden wäre), aber eben auch um so etwas wie ‚Ausflüge‘ in alle Bereiche des Wirklichen, die gar nicht unmittelbar Gegenstand des Kapitals sind: so in die Philosophie natürlich, in Staats- und Rechtstheorien, die Psychoanalyse Freuds oder die Ästhetik Adornos.

Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass es sich bei diesen Unternehmungen tatsächlich um Ausflüge handelt, das heißt: die Marxschen, im Kapital vorzufindenden Kategorien bilden das Zentrum, zu dem man immer wieder zurückkehrt. Dass es sich bei diesen Kategorien, so wie sie von der NML verstanden werden (wobei auch in Frage steht, ob Marx dieses Verständnis überhaupt geteilt hätte) um genau das handelt, was Sartre Teil-Totalität nennt, lässt sich daran zeigen, wie die NML die Inhalte komplett verfehlt, um die es in diesen Ausflügen geht. Zu nennen wäre an dieser Stelle als erstes natürlich der Freiheitsbegriff, um den es ja bei Sartre geht, aber auch die Ich-Analysen Freuds, der Subjektbegriff überhaupt, die Fragen nach einer Begründung von Geltung in Wissenschaft wie Philosophie (und deren Genesis) bis hin zu den Begriffen von Staat und Souveränität, um die Frage nach der Grundlegung moralischer Urteile nicht zu vergessen. Kurz: wenn es nicht gelingt, all diese Teilbereiche (von denen jeder selbst schon das Zeug hätte, sich zur Teil-Totalität aufzuschwingen) in ein ‚Zentrum’ zu integrieren, besser natürlich: auf den Begriff zu bringen, ohne sie auf diesen Zweck hin so zuzurichten, dass sie schließlich ‚passen‘, kann das ganze Unternehmen als gescheitert angesehen werden.

Böse Zungen könnten nun einwenden, das liefe ja auf ein ‚materialistisches’ Wikipedia hinaus, aber die können beruhigt werden. Es geht um, wie Adorno das nennen würde, Konstellationen, die man daraufhin untersucht, ob sich in ihnen etwas zeigt, was es erlaubt, sie auf eine Einheit zu bringen. Aber auch um das Finden des ‚Steins der Weisen‘ geht es nicht. Es wird sich recht schnell zeigen, dass, wenn man wie hier mit Sartres Philosophie beginnt, sich der Rest aus einer Reproblematisierung des Kantschen Begriffes von Erkenntnis recht einsichtig entwickeln lässt. [5] Und das Rad muss auch nicht neu erfunden werden. Es gibt genügend Vorarbeiten und Diskussionen, auf die eine Arbeit wie diese zurückgreifen kann. [6]

Allerdings kann nicht geleugnet werden, dass die Darstellung auf einer sehr hohen Abstraktionsebene stattfinden muss, einer Ebene, auf der der Kontakt zur Wirklichkeit, um die es allein aber geht, verloren zu gehen droht. Will man dies verhindern, dann aber wird die Darstellung nahezu zwangsläufig sprunghaft, der ‚rote Faden‘ geht schnell verloren. Dieses Dilemma wird im Folgenden damit zu lösen versucht, dass einerseits der Weg zu den konkreteren Ebenen nur angedeutet werden kann, und andererseits nahezu vollständig darauf verzichtet wird, die Verweise auf die herangezogenen Philosophen und Autoren zu belegen. Besonders die ‚Koryphäen‘, um die es hier vor allem geht (insbesondere Sartre, Freud, Marx, Adorno, Heidegger, Hegel und Kant) werden nicht nur aus pragmatischen Gründen nicht zitiert, sie sollten es sich generell gefallen lassen müssen, von ihren Resultaten her komprimiert in den hier zur Debatte stehenden Zusammenhang eingeordnet zu werden.

Die angesprochene Abstraktionsebene lässt sich am besten damit charakterisieren, dass sie oberhalb (oder, je nach Sichtweise, auch unterhalb) von Adornos Ästhetik anzusiedeln wäre. Diese bildet im Denken Adornos, was schon des Öfteren festgestellt worden ist, so etwas wie eine Zwischenebene, von der aus er in die Wirklichkeit von philosophischer Basis aus (und umgekehrt) vorstoßen konnte. Im Folgenden wird der Begriff der Form, der seine Begründung (natürlich nicht nur bei Adorno) in der Ästhetik hat, herangezogen, um den Weg vom Abstrakten ins Konkrete (und vice versa) nachzeichnen zu können.

I. Topik der Freiheit

1. Freiheit ‚als solche‘

In der Absicht, seine Kritik an Sartres Begriff von Freiheit philosophisch abzusichern, wählt Ingo Elbe aus der Vielzahl möglicher Kandidaten eine Autorität, die befremdlich anmutet: den Kommunitaristen Charles Taylor. Bevor gezeigt werden soll, warum diese ‚Wahl‘ nicht zufällig ist, sei ein Einwand gegen den formalen Aufbau seines Versuchs einer Widerlegung Sartres formuliert: dem Leser wird dieser Rückgriff auf Taylor erst am Ende des Artikels präsentiert. Hätte Elbe uns gleich zu Beginn über seine Entscheidung informiert, hätte er uns die Zeit ersparen können, die die Lektüre der Absätze zuvor kostet. Jedem nämlich, der sich auf Sartres in seinem philosophischen Hauptwerk Das Sein und das Nichts (SN) unternommenen Versuch einlässt, den Begriff der Freiheit von Grund auf erkenntnistheoretisch neu zu bestimmen, dürfte sofort auffallen, dass Sartre so etwas wie einen deduktiven Beweis führt. Das heißt, wenn Sartres Basisbestimmung: die jedem menschlichen Individuum gegebene Freiheit, als solche zu widerlegen ist – diese Widerlegung soll Taylor laut Elbe gelungen sein –, dann kann alles, was folgt, an und für sich selbst noch so richtig sein, es ist unerheblich für die Sache, um die es in Sartres weiteren Ausführungen geht – aus Falschem läßt sich alles Mögliche folgern, die Folgerungen aus diesem Falschen sind jedenfalls wertlos. Von diesem für Elbe falschen Anfang Sartres her gesehen wird jede weitere Beschäftigung mit ihm zum bloßen Zeitvertreib; alle Ausführungen Elbes vor seiner Berufung auf Taylor, soweit sie zur Widerlegung Sartres beitragen sollen, werden zu außerhalb der Sache liegenden, im Grunde überflüssigen Dreingaben. [7]

Zu fragen bleibt, warum Elbe, der sich zweifellos auskennt in der Philosophiegeschichte, gerade auf Taylor kommt, dessen Ruf als Philosoph, vorsichtig ausgedrückt, bescheiden ist. Die nächstliegende Antwort ist einfach und wird sich auch als korrekt herausstellen: Es findet sich kein ernst zu nehmender Philosoph, der Sartres Begriff von Freiheit für falsch erklärt. Bevor dieser Umstand gewürdigt werden soll, sei eine andere mögliche Antwort vorgestellt. Sie ist verwirrender, aber interessanter: Elbe hat von Sartres Philosophie mehr verstanden als er dem Leser offenlegt. Zumindest als er den Schluss seines Artikels schrieb, muss er geahnt haben, dass Sartre nicht die Willensfreiheit – also die, nach der ein ‚Ich‘ frei über die in seinem Inneren, in der ‚Seele’, vorgefundenen Bestrebungen verfügen könne, es „Herr im eigenen Hause“ wäre –, nicht die Handlungsfreiheit – also die, die sich zwischen vorgegebenen Alternativen entscheidet –, von denen bei Elbe vor seiner Berufung auf Taylor ausschließlich die Rede ist, zu seinem Ausgang wählt, sondern eine Freiheit, die einem jeden Verständnis von ihr begriffslogisch vorangeht: die im Kopf eines jeden Menschen existierende Möglichkeit, eine beliebige Wahrnehmung in der einen oder anderen Weise zu differenzieren, und die ein jeder bei sich selbst jederzeit und zweifelsfrei feststellen kann, was heißt: jeder vermag seine Gedanken oder Gefühle oder sonstigen Eindrücke so zu differenzieren, wie er glaubt, es werde von seinen Mitmenschen in derselben Weise getan – oder eben anders; er vermag Wörter mit, so denkt er sich meist intuitiv, denselben Bedeutungen zu versehen wie die anderen, oder mit wie graduell auch immer veränderten; er kann das von ihm derartig Differenzierte zu Einheiten, zu Verallgemeinerungen zusammenzufassen, die den geläufigen entsprechen – oder eben nicht. Zusammengefasst, und das klingt nur auf den ersten Blick banal: jeder Begriff hat in jedem Individuum mehr oder weniger unterschiedliche Konnotationen. Das wäre unmöglich, wenn der Mensch, vor aller weiteren Bestimmung, denen sein Denken und Verhalten auch immer folgen mag – den Notwendigkeiten, die ihm von seinen Leidenschaften, von seiner Umwelt, von der Logik, der Vernunft und vielem anderem mehr gesetzt werden können – nicht frei wäre. Diese (Denk-) Freiheit, der keine weiteren Voraussetzungen, [8] weder natürliche noch geistige, der weder ein – innerer oder äußerer – Wille noch ein Lustprinzip oder sonst ein Prinzip zugrunde liegen, meint aber nun einmal Sartre, wenn er von Freiheit spricht.

Sartre unternimmt etwas für jede Philosophie vor ihm Ungeheuerliches, von Grund auf Unerhörtes: er setzt der Denkfreiheit keine Vernunft, keine Wirklichkeit voraus, durch die hindurch diese Freiheit erst in Existenz gesetzt werden würde. Von hier aus zeichnet er logisch nach, wohin es führt, wenn man einen philosophischen Entwurf mit dieser Freiheit beginnt. Sartres Leitlinie lautet dementsprechend: was bleibt am Menschen an Bestimmungen übrig, wenn ich von allem abstrahiere, was sein Denken (von innen oder außen) bestimmt oder auch nur bestimmen könnte? Das Resultat nennt er die (menschliche) Existenz und fasst deren Verhältnis zur Welt in den einfachen aber treffenden Satz: „Die Existenz geht der Essenz voraus“.

Ihren Ort hat diese Freiheit in der Reflexion, genauer, dem „Denken des Denkens“ (Aristoteles) [9]: es ist dem Menschen unmöglich, sie auszuschalten, sie begleitet ihn, dem Kantschen Ich-Begriff analog, ständig – allerdings, anders als Kant sich das in Bezug auf das Transzendentalsubjekt, das als verallgemeinerte Form jenes Ichs gefasst werden kann, dachte (zumindest nahelegte), nur im besonderen, an einen Leib gebundenen Individuum, also nicht in einem transzendentalen oder ontologischen Allgemeinen.

Das erste nun, was Sartre bezogen auf die Freiheit feststellt, ist, dass der Mensch die in der Reflexion einbeschlossene Freiheit zu negieren vermag. Diese Negation ist ihm eine (bewusste) Entscheidung. Überhaupt: jede Entscheidung stellt eine Negation von Freiheit dar. So wie Freiheit und Negation sind auch Freiheit und Entscheidung – in ihrer Verschiedenheit – identisch. Auf die Auswirkungen dieser Entscheidungen für das tatsächliche Handeln von uns als Subjekten wird ausführlich einzugehen sein. Zuvor ist noch Einiges zum Charakter dieser von Sartre gemeinten Freiheit klarzustellen.

2. Historischer Hintergrund

Nicht einmal Gehirnforscher, die sich doch, aus wissenschaftsimmanenten Gründen, zum Kampf gegen die Freiheit des Willens geradezu verschworen haben, sind bisher so weit gegangen, der Reflexion ihre Freiheit zu bestreiten: sie wollen ‚lediglich‘ beweisen, dass das ‚Ich’ – das sie zwar als ‚Illusion’ betrachten, aber damit immerhin nicht als inexistent – auf das beobachtbare Handeln der Individuen keinen Einfluss hat, sondern dass deren Verhalten allein von Umweltreizen, genetischen oder sonstigen Determinanten abhängig ist. Für diese Auffassung Parallelen in der Philosophiegeschichte zu finden, hätte Elbe, wenn er denn Neurophilosophen für nicht zitierfähig erachtet, kaum Probleme bereiten dürfen: im Grunde gibt es vor Sartre keinen Philosophen von Rang, dem diese Reflexionsfreiheit mehr als nur ein paar abschätzige Bemerkungen wie die, die Elbe von Kant ja auch zitiert hat [10], wert gewesen wäre. Denn diesen Philosophen geht es vor allem um die Auslotung der Möglichkeiten und Bedingungen einer der Vernunft folgenden Praxis – wie dann die (Denk-)Freiheit sich in dieser Vernunft, beziehungsweise in der Praxis, zur Geltung bringt, das ist eine Variable, die in den verschiedensten Varianten zwar durchgespielt worden ist. Die Freiheit aber, von der Sartre spricht, galt ihnen als alles andere denn als Grundlage menschlicher Existenz, als alles andere denn als konstitutives Moment von Vernunft überhaupt, sehr viel eher im Gegenteil: als bloße Freiheit, der Vernunft nicht unbedingt auch Folge leisten zu müssen, als Freiheit quasi, die allein darin besteht, auch behaupten zu können, zwei plus zwei sei fünf.

Einzig, und dies ist für die Verallgemeinerung des bürgerlichen Freiheitsbegriffes im westlichen Abendland allerdings nicht hoch genug einzuschätzen, die katholische Dogmatik misst der in der Reflexion nicht auszuschaltenden Freiheit einen zentralen Stellenwert zu: Der Mensch ist darin, zu sündigen, also Gott – und somit der Vernunft – nicht zu gehorchen, grundsätzlich frei. Anders als etwa im Islam handelt es sich beim Katholizismus – mit einigen, fließenden Unterschieden beim Judentum erst recht, das aber so etwas wie diese katholische Dogmatik nicht kennt – nicht um eine Scheinfreiheit: der Muslim, der sündigt, verstößt zwar gegen den ihm bekannten, da von den Autoritäten vermittelten Willen Allahs. Diese Sünden gelten ihm aber, wie alles andere in der Welt auch, als vorbestimmt; im Grunde also wollte Allah, daß der Sünder nicht gehorche – denn sonst wäre Gott ja wohl kaum, so die spontan einleuchtende Begründung, allmächtig. Der Jude und Katholik hingegen sind von Gott in die Freiheit entlassen, genauer: vertrieben worden; sie müssen sich, und nur dafür hat Gott diese Welt überhaupt erst erschaffen, gegen ihre seit ihrer Vertreibung aus dem Paradies unhintergehbare Sündhaftigkeit behaupten, sich als Einzelne ständig fragen, ob ihr Verhalten, und vor allem anderen: ihr Denken – und natürlich auch ihre innerleiblichen Motive, so in sich tief verborgen sie diese auch vor allen Mitgläubigen verschließen – gottgefällig ist, und sie tragen somit, je allein für sich, auch die Verantwortung dafür, nach ihrem Tod nicht ins Paradies zu kommen. Wenn Sartre davon spricht, der Mensch sei „zur Freiheit verurteilt“, dann zeigt dies an, daß sein Begriff von Freiheit an diesen jüdisch-christlichen Kerngedanken im Verhältnis des Menschen zu Gott anschließt, wenn er auch, in einer Konsequenz wie kein Philosoph vor ihm, keine Instanz kennt, die der menschlichen Existenz, seiner Freiheit, vorgelagert wäre – und er somit erst recht keine Instanz anerkennen kann, die den Menschen zu dieser Freiheit je hätte verurteilen können.

Sartre geht es selbstredend nicht um die Trennung von Gott und Mensch, doch er kehrt, so wäre dies vor dem Hintergrund der zusammengebrochenen französischen Gesellschaft zur Zeit der Niederschrift von SN auszudrücken, zum Beginn derjenigen Trennung zurück, die für die Aufklärung fundamental ist, und die üblicherweise als Kopernikanische Wende bezeichnet wird: statt in der Trennung von Gott lebt der Mensch seit Beginn der Neuzeit bekanntlich in der Trennung von der Natur. Sartre versucht in seinem Entwurf, mit anderen Worten, das Verhältnis von Subjekt und Objekt von Grund auf neu, also anders als etwa Descartes, Kant oder Hegel, und, wie unbedingt zu betonen ist, Heidegger erst recht, zu denken – in dem Bewusstsein, dass die bisherige Geschichte der praktischen Verarbeitung dieser Trennung in die Katastrophen des Nationalsozialismus geführt hat.

Diese Rückkehr Sartres zu den in der Trennung von Subjekt und Objekt aufgehobenen Anfängen von Philosophie und Naturerkenntnis wird von Ingo Elbe vollkommen außen vor gelassen. Er steht hier nicht allein: durchweg, auch und gerade von der Kritischen Theorie, wird Sartre als Schüler Heideggers gelesen. Heidegger und seine Nachfolger, bis hin zu den heutigen Postmodernen, gehen ausdrücklich von der Unhaltbarkeit der Trennung von Subjekt und Objekt aus – Sartre hingegen sieht gerade in der ‚Überwindung‘ dieser Trennung, die zum bruchlosen Ineinanderaufgehen aller Differenzierungen, das heißt: zum Negieren der Negation als Möglichkeitsbedingung von Reflexion überhaupt führt, den Grund allen Übels.

Zusammengefasst: im Begriff der Freiheit ist keine Wertung konnotiert – so wenig wie etwa im Ich bei Freud. Freiheit ist einfach ‚da‘, weiter nichts. Aus ihr kann nicht gefolgert werden, dass sie erst noch verwirklicht oder im Handeln ausgelebt werden müsse, erst recht ist sie kein anthropologischer Trieb und auf gar keinen Fall begründet sie ein geschichtsteleologisches Prinzip, vielmehr gilt: ihr Dasein als unendliche Fülle von Möglichkeiten wird infolge von Entscheidungen negiert. Allerdings ergibt sich daraus, dass sie an den individuellen Leib gebunden und dessen inneren Regungen ausgeliefert ist, auch ein zentrales Motiv, das allen ihren Negationen im Kern zugrunde liegt: die Angst, falsch entschieden zu haben. Diese Angst wird, bis hinein in den allgemeinen Sprachgebrauch, als Existenzangst bezeichnet. [11]

3. Philosophie der Freiheit

Sartre macht sich also die bisherigen Antworten auf die Grundfragen der Erkenntnistheorie zum Problem. Er fragt entsprechend: Was kann ich vom Objekt, vom Kantschen „Ding an sich“ wissen, und kommt hier, es kann gar nicht anders sein, recht schnell zur selben Antwort wie Kant: alles, was wir von den Gegenständen unseres Denkens wissen können, wird von uns in sie hinein gelegt. Entscheidend für die Neuerung wird also die andere Frage, die nach dem Subjekt: Was legt es in das Objekt, um es erkennen zu können, und wie macht es das? Was also kann ich vom Subjekt (von mir selbst und von allen anderen) wissen?

Die Antworten, die die Philosophen, bis hin zu Hegel, also insoweit sie den Bruch zwischen Subjekt und Objekt [12] prinzipiell akzeptieren, gegeben haben, lassen sich in jeder Philosophiegeschichte nachlesen. Um Sartres Auffassung zu klären, reicht hier eine kurze Erörterung der Antwort Kants aus. Das Grundmotiv der Philosophie Kants ist bekanntlich, erklären zu können, warum die Naturgesetze, wie sie von Isaac Newton etwa formuliert worden sind, eindeutig Wahres, allgemein Geltendes, über die Natur aussagen. Seine Lösung: Es muss in jedem einzelnen Subjekt ein in spezifischer ‚Reinheit‘, das heißt vor aller Erfahrung verfasstes Allgemeinsubjekt geben, aus dem heraus die Geltung der Naturgesetze, ihre Objektivität, erst begründet werden kann. Es ist hier unnötig, die ganze Problematik der Kantschen Lösung zu diskutieren, denn Sartre erachtet alle derartige Lösungen, und erst recht solche, die den Subjekten eine sie überschreitende, eine von ihnen nicht vernünftig zu bezweifelnde Allgemeinheit unterstellen, für, vorsichtig gesagt, hoch problematisch. Eine Verallgemeinerung, die in sich eindeutig bestimmt wäre (als Transzendentalsubjekt [13], als Geist, als Sprache etc.) und die das einzelne Subjekt auf ein Absolutes hin „überschreiten“ könnte, existiert nicht, ist, ‚unvorsichtig’ gesprochen, nur in der Form einer Lüge, wie es die von der Existenz Gottes ist, zu haben. Die Frage nach dem Subjekt kann für Sartre, nach Abzug all dieser Lügen, korrekterweise nur lauten: Was kann ich von einem einzelnen Menschen wissen?

Wer sich mit Sartre beschäftigt und sich dieser Ausgangsfrage nicht stellt, kann sich diese Arbeit schenken; er wird der Sache, um die es jenem geht, von vornherein nicht gerecht. Aber mehr noch, die Frage anders gestellt: Was ist gegen Sartre vorzubringen, insofern dieser darauf beharrt, dass jeder, der meint, etwas allgemein Geltendes über diese Welt aussagen zu können, aufgefordert ist, zu beweisen, dass die Verallgemeinerung, auf die er sich beruft, und die es ihm erlaubt, den Bruch zwischen ihm, einem zweifellos individuellen Subjekt, und dem Gegenstand, über den er redet (und sei dieses Objekt: es selbst), zu transzendieren, tatsächlich existiert?

Kehren wir zur ‚Widerlegung‘ von Sartre durch Ingo Elbe zurück. Mein Verdacht: während seiner Beschäftigung mit Sartre ging ihm auf, dass ihm ein Philosoph oder sonstiger Denker, der dessen Kernproblem im Subjekt-Objekt-Verhältnis gelöst – oder auch nur als unerheblich nachgewiesen hätte, nicht bekannt ist. Womit er ganz recht hat, lässt man Heidegger, der unter Anhängern der Kritischen Theorie in Grundsatzfragen natürlich zu Recht als nicht zustimmend zitierfähig zu gelten hat, hier außen vor. Um Sartre nun nicht (zumindest vom Prinzip her) Recht geben zu müssen, benötigte er eine ‚Autorität’, die Sartres Kernaussage über das vereinzelte Subjekt: dass es frei ist, oder, um in wissenschaftlich verdinglichter Sprache zu reden: dass seine Reflexion kontingent ist, negiert. Und verfiel so auf den Kommunitaristen Charles Taylor.

4. Differenz und Einheit

Es kann hier nicht darum gehen zu erörtern, ob Elbe Taylor richtig interpretiert, oder ob Taylor wirklich Sartre widerlegt, denn es geht um Grundsätzlicheres. Um dies möglichst einfach und kurz abhandeln zu können, sei hier ganz allgemein gefragt: Wie müsste man das Denken des (individuellen) Subjekts bestimmen, damit Sartre als widerlegt gelten könnte?

Es gibt dafür nur einen Weg: Man muss zeigen können, dass alle im Denken vorfindlichen Differenzen – denn nur wo Differenzen existieren, kann von Freiheit (oder auch, verdinglicht: von Kontingenz) überhaupt die Rede sein – Ausdruck einer ihnen vorangehenden Einheit, beziehungsweise in all ihren Momenten von einer solchen Einheit bestimmt sind. Dass, kurz gesagt, Differenz Einheit voraussetzt und nicht umgekehrt: Einheit Differenz. Sartre also wäre nur als widerlegt anzusehen, wenn man im Denken eine Einheit benennen kann, die alle Differenz, in der sich Denken bewegt (und nur bewegen kann), in sich enthält.

Elbe beziehungsweise Taylor mögen sich noch so anstrengen: eine solche Einheit ist im Denken nicht zu finden, ist nur als Transzendentalie denkbar, also als ein Etwas, das das Denken überschreitet, und von dem Sartre nachweist, dass dessen Existenzbehauptung eine unzulässige Überschreitung des individuell-besonderen Denkens in eine es – als Besonderheit – negierende Allgemeinheit darstellt. Oder anders, autoritativ-philosophisch abgesichert: Für den Nachweis der Existenz dieser Einheit wäre der ontologische Gottesbeweis zu führen – dessen Unmöglichkeit Kant aber längst – in sich schlüssig und von keinem widerlegt – bewiesen hat.

Wenn der Verstand (eine synthetische) Einheit denkt, dann denkt er diese von der sie erfassenden Differenz her [14]: also von der Freiheit, diese oder irgendeine andere Differenz zu dieser oder irgendeiner anderen Einheit zusammenfassen zu können. Diese Freiheit ist absolut, ohne jede Einschränkung durch irgend eine dem Denken äußere Sache – allerdings natürlich nur so lange, wie ich allein die im Subjekt gedachte Einheit bedenke, von allem anderen also abstrahiere (also nichts anderes mache als das „Denken zu denken“). Im wirklichen Leben natürlich ist Denken immer zugleich mit von ihm getrennten Objekten, „Dingen an sich“, konfrontiert. Auf diese Weise, in dieser realen Gleichzeitigkeit des Denkens mit dem ihm negativ Konfrontierten, ist die Ausgangsdifferenz von Subjekt und Objekt eingeholt. Sartre ist somit alles andere als Solipsist; er ist noch nicht einmal Konstruktivist. Der absolute Bruch zwischen Subjekt und Objekt wird bei ihm überbrückt, indem die Reflexion im (empirischen) Subjekt das (aus dem Nichts aufgetauchte, das Nichts negierende) Ding an sich zu einem Ding für sich macht. [15]

In SN handelt Sartre nun die Momente ab, die in der Logik dieser Grundkonstellation, der (menschlichen) Existenz, eingeschlossen sind. Diese Logik (die zu den Bestimmungen der Begriffe Verantwortlichkeit, Aufrichtigkeit, Zweck- bzw. Zielsetzung, Wert und einigen weiteren führt, von denen besonders der Begriff der Zeitlichkeit hervorzuheben ist sowie Sartres Abgrenzung vom Begriff des Unbewußten bei Freud ist ‚wasserdicht‘ – was jeder in sich als persönliche Erfahrung nachvollziehen kann. Auch Elbe kann seine Einwände nur formulieren, indem er im Sartreschen Sinne unaufrichtig argumentiert: all seine Ausführungen zur Willens- und Handlungsfreiheit sind von Sartre, wie man ohne großen Aufwand nachlesen kann, in ihrem Begründungsaufbau vollkommen anders hergeleitet als Elbe dies seinen Lesern darbietet – daran ändern auch seine vielen Zitate nichts, vielmehr verkehren sie, so wie Elbe sie ordnet, die innere Logik der Sache, um die es Sartre geht, geradezu in ihr Gegenteil.

II. Situationsanalyse

1. Freiheit und Praxis

Nichts aber wäre nun verkehrter als Sartre zu unterstellen, er hätte auch nur versucht, à la Kant oder Hegel (oder Heidegger erst recht), von einer ersten Grundkonstellation ausgehend eine die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit erfassende Philosophie zu entwickeln. [16] Sartres Entwurf der (menschlichen) Existenz, so konsistent er auch sein mag, stellt nicht den Beginn einer ‚prima philosophia‘ dar. Im Gegenteil: Seine Philosophie hört an einer bestimmten Grenze auf, und zwar ganz bewusst – und bezeichnenderweise genau dort, wo es für marxistische und sonstige Gesellschaftstheoretiker im Grunde erst beginnt, interessant zu werden: die Linie, vor deren Überschreitung seine Philosophie quasi endet und eine ‚neue‘ Welt beginnt: die ‚Welt‘ des empirisch beobachtbaren Handelns und Verhaltens vor allem, ist dort gezogen, wo das individuelle Subjekt unter den ihm äußeren Gegenständen eine ‚Klasse‘ von Objekten entdeckt, für die es zum Ding an sich wird. Es erkennt, dass es Objekte gibt, die so existieren wie es, das erkennende Subjekt, selbst. Die Beziehungen, die das einzelne Subjekt zu den Objekten entwickelt, die sich selbst, je für sich, auch als Subjekt begreifen müssen, subsumiert Sartre im Begriff der Situation. [17] Der Mensch handelt immer in Situationen, die ihm äußerlich sind, woraus folgt, dass sein Verhalten (zumindest) doppelt bestimmt ist: von den Entscheidungen, die aus dem ihm gegebenen An-sich ein Für-ihn machen, einerseits und den in der jeweiligen Situation vorgegebenen Möglichkeiten andererseits. Der Übergang von diesem ‚Einerseits‘ zu seinem ‚Andererseits‘ ist dabei eindeutig bestimmbar: der individuelle Leib, an dem das Verhalten beobachtet werden kann, markiert eine klar definierte Grenze und es kann somit – vorausgesetzt natürlich, man verfügt über die entsprechenden Informationen beziehungsweise Fakten – jederzeit geklärt werden, welche äußeren Einflüsse und Möglichkeiten das Subjekt – zusammen mit denen, die der eigene Leib im Inneren bereit stellt – in seinem Denken in welcher Weise verarbeitet, um so, schlussendlich ‚zusammengefügt‘ mit den existentiell-freien Entscheidungen – welche jeden einzelnen Schritt in diesem situationsbedingten ‚Komplex‘ in die eine oder jede andere Richtung lenken –, das bestimmte, beobachtbare Verhalten generieren.

Wobei, trotz der Eindeutigkeit dieser Grenze – beziehungsweise gerade wegen ihr –, schon bis hier deutlich geworden sein dürfte, dass das Handeln für Sartre prinzipiell keiner einheitlichen Erklärung zugänglich ist; da hat Elbe vollkommen Recht. Eine derartige Erklärung wäre nur um den Preis zu haben, von entscheidenden Bestimmungsgründen der Praxis – in der inneren wie der äußeren Welt – abstrahieren zu müssen. Einmal abgesehen von der existentiellen Freiheit der Subjekte, die eine (deterministisch verstandene) Erklärbarkeit von Handlungen prinzipiell schon verunmöglicht: selbst wenn man unterstellt, dass alle Individuen sich entschieden hätten, sich ihr Handeln allein von der Situation vorgeben zu lassen, sich nur an den von ihr vorgegebenen Handlungsmöglichkeiten zu orientieren, wäre schon die einfachste und ‚übersichtlichste‘ Situation in sich dermaßen ‚komplex‘, dass es einer gewaltigen, wesentliche, den Einzelfall determinierende Bestimmungsgründe außen vor lassenden Abstraktionsleistung bedarf, in der Analyse dieser Situation diese Gründe auf wenige allgemeine, der Rationalität zugängliche Handlungsmotive zu reduzieren.

Elbe nennt Sartre trotz alledem einen „Praxisphilosophen“, was, allein schon vor dem Hintergrund des bisher Ausgeführten, eine reichlich üble Denunziation darstellt. Natürlich ist auch für Sartre die Praxis Dreh- und Angelpunkt aller Überlegungen – das kann gar nicht anders sein, ansonsten wäre tatsächlich jede Beschäftigung mit ihm überflüssig. Ein Praxisphilosoph hingegen ist jemand, der sich entschieden hat, das Denken im allgemeinen von Praxis abhängig zu machen; richtig denkt für ihn derjenige, der darum besorgt ist, ein – wie er meint, sich aus sich selbst heraus legitimierendes – Projekt erfolgreich in die Wirklichkeit umzusetzen. Jeder derartige Primat der Praxis macht Philosophie obsolet, reduziert sie bestenfalls auf ein Hobby von Leuten mit allzuviel Freizeit oder erhebt sie schlimmstenfalls zur Legitimationsideologie – wie im Arbeiterbewegungsmarxismus. Denken hat aus dieser Perspektive nur einen Wert, solange es den Status von Theoriebildung nicht überschreitet. Und wo wir schon einmal dabei sind: mit der nun schon seit Jahrzehnten die sozialwissenschaftliche Theoriebildung erfolglos umtreibenden Grundsatzfrage, wie der angebliche Gegensatz von Handlungs- und Systemtheorie (vulgo: Praxis und Theorie) denn nun endlich aufgelöst werden könne, hat Sartre offensichtlich rein gar keine Probleme.

2. Situation und Existenz

Dass der Begriff der Situation, wie Sartre ihn fasst, problematisch ist, klang schon an. Seine Situationsanalyse kennt als negatives, Kritik begründendes Prinzip nur das eine: ihr ist es verwehrt, auf Transzendentalien zurückzugreifen, auf Verallgemeinerungen, denen ein der menschlichen Existenz analoger, ihr vergleichbarer Realitätsstatus unterstellt wird. Ansonsten kann umstandslos auf alle Philosophien, Theorien und empirische Untersuchungen zurückgegriffen werden, wenn es zur Klärung der infrage stehenden Sachverhalte dienlich scheint. Wissenschaftliche positivistische Methoden sind Sartre ebenso willkommen wie Hegelsche Begriffsbestimmungen, etwa die von Vermittlung oder Wesen, solange sie der Existenz nachgeordnet bleiben, sie nicht die Priorität der (menschlichen) Existenz infrage stellen. Der philosophische Entwurf dient Sartre damit ‚nur’ als kritisch-negative Folie, die die erkenntnistheoretischen Grenzen all der vorhandenen, als geltend anerkannten Untersuchungsmethoden markiert.

Dies ist als solches noch nicht problematisch: denn, so lange es nicht gelingt, für das, was Sartre das In-Situation-Sein der Existenz nennt, ein Differenzierungs- oder gar Strukturprinzip anzugeben, dass der Existenz vorangeht oder ihr gleichrangig zur Seite gestellt wird – und dafür ist, wie gesagt, der, der behauptet, so etwas entdeckt zu haben, beweispflichtig –, so lange mag man diese Auffassung als unzureichend empfinden, Unzufriedenheit begründet aber kaum einen Einwand. Erneut muss an dieser Stelle in aller Deutlichkeit festgestellt werden: So richtig es ist, dass für Sartre die Situation in all ihrer Komplexität allein konstituiert ist von den Entscheidungen der Subjekte und deren Überschreitungen im Hinblick auf die situativ gegebenen Möglichkeiten, ihm geht es an keiner Stelle darum, das Subjekt zu hypostasieren, es zum Konstrukteur seiner Situationen zu machen, zum Herrn über die Situation zu verklären oder es auch nur handlungsperspektivisch zu solch einem machen zu wollen. Er ist kein Utopist. Sein Engagement zielt allein darauf, die Subjekte darauf zu stoßen, dass sie in jeder Situation als Täter miteinander umgehen, als Täter, die andere Subjekte wie Objekte behandeln müssen, aber diesen Objekten gegenüber, im ureigensten Interesse, wenn sie sich nicht selbst auf den Status eines bloßen Objekts reduzieren lassen wollen, nicht umhin können, wollen zu müssen, dass den Mit-Subjekten so viel Freiheit wie nur möglich zuzugestehen ist. [18]

Dies mag man, als Grundlage einer Begründung von Moral verstanden, für naiv oder banal halten – aber wer im Glashaus sitzt, sollte bekanntlich nicht mit Steinen werfen: eine naive Letztbegründung von Moral ist immer noch besser als gar keine. Wer Sartre einen Subjektivisten, einen Idealisten gar nennt, hat jedenfalls nicht begriffen, worum es diesem geht: eine begründete Basis für die Negation unhaltbarer gesellschaftlicher Zustände zu entfalten. Mag sein, dass diese Begründung widerlegt werden kann – aber so wie Marcuse, Adorno und die NML dies versuchen, nämlich ohne sich auf die Sache selbst wirklich einzulassen, gelingt das nicht.

3. Drei ‚Objektklassen‘

Um sich der Problematik von Sartres Situationsanalysen zu nähern, kann man auf seinen erkenntnistheoretischen Entwurf zurückgreifen: Denn ganz offensichtlich unterscheidet er drei eindeutig voneinander unterscheidbare ‚Klassen’ von Subjekt-Objekt-Beziehungen, allerdings ohne diese zum Gegenstand seiner Untersuchungen zu machen, denn die einzige Differenz, die Sartre als grundlegend gelten lässt, von der alle anderen ihren Ausgang nehmen, ist die von Ding an sich und Ding für sich. In dieser aber verschwinden die spezifischen Differenzen, die diesen ‚Objektklassen‘ ihren je besonderen Charakter verleihen: Es macht aber für die Erkenntnis einen Unterschied ums Ganze aus, ob das Ding an sich der dem individuellen Leib äußeren (ersten) Natur zuzurechnen ist, oder der dem Leib inneren, vom Für sich als Begehren, Leidenschaft, Interesse usw. wahrgenommenen Natur. Und dazu kommt deshalb noch das situative, von der Soziologie als Gesellschaftlichkeit gefasste Ding an sich, das vom Materialismus als ‚zweite Natur’ gefasst wird, und von Sartre als Beziehung zwischen den Subjekten – die sich gegenseitig als Objekte instrumentalisieren.

Um die Sache abzukürzen, sei ohne jede Erläuterung der Gründe und der Berechtigung für eine Differenzierung in diese ‚Objektklassen‘ pauschal festgestellt: die erste ist Gegenstand der (Natur-) Wissenschaft, die zweite Gegenstand der Psychoanalyse und die dritte der vornehmste beziehungsweise (oft nahezu) ausschließliche Gegenstand des marxistischen ‚Materialismus‘. Was hier sofort auffällt: Auf den ersten Blick scheint es, als sei diese Kennzeichnung willkürlich, denn in jeder von ihr wäre mit Leichtigkeit die Behauptung zu belegen, die anderen Objektklassen in sich zu enthalten. Der Psychoanalytiker und der Materialist wenden zum Beispiel ja durchaus auch, wenn nicht gar ausschließlich wissenschaftliche Methoden an, der Unterschied besteht, so scheint es, allein im Gegenstand, nicht in den Verfahren der Analysen dieser ‚Klassen‘.

Man kann es geradezu Sartre als (von ihm gar nicht intendierten) Verdienst zuschreiben, mit dieser Einteilung allgemeinverständlich deutlich machen zu können, dass man diesen drei ‚Objektklassen’ mit einem einheitlichen Untersuchungsverfahren unmöglich gerecht werden kann, da dies die unterschiedliche Konstitution ihrer Basis im Resultat unterschlägt.

a) Subjekt und äußere Natur: Zentral für die Untersuchung der ersten Objektklasse ist der Satz der Identität, die formale Logik, das Verhältnis von Deduktion und Induktion und die Ermittlung operationalisierbarer Zusammenhänge – die darin angelegte Problematik ist durchgängiger Gegenstand der vorliegenden Arbeit.

b) Subjekt und innere Natur: Kommen wir zur zweiten ‚Objektklasse‘, diese ist nicht so einfach zu bestimmen: So sehr Freud sich auch bemüht hat, den wissenschaftlichen Analyserahmen nicht zu verlassen – sein Gegenstand, dessen empirische Analyse, zwang ihn, je mehr er sich auf ihn einließ, zuzugestehen, dass er sich zwar, wie jeder Gegenstand, natürlich wissenschaftlich untersuchen, aber nicht eindeutig kategorisieren ließ. Kurz, so resümiert der Philosoph: hier, in der ‚Seele’, gilt der Satz der Identität einfach nicht. Ständig tauchen am selben Ort zur selben Zeit mindestens zwei unterschiedliche Regungen zusammen auf. Das Ich, das Einheit/Identität, Kontrolle verbürgen soll, ist, um dies leisten zu können, ständig gezwungen, Verdrängungen, Verschiebungen, Übertragungen, Substituierungen und Sublimierungen vorzunehmen, die die begriffliche Erfassung des Wahrgenommenen in seinen Grenzen, Charakterisierungen und Zusammenhängen ständig neu organisieren und verschiebt sich dabei ständig in Es und Über-Ich hinein. [19] Auch wenn die Differenzierungen hier alles andere als frei sind von aller ‚Logik’ (die Freud vor allem in der Traumdeutung zu fassen versuchte), so ist es aber dennoch, wie Freud immer wieder neu und in zunehmenden Maße feststellen musste, unmöglich, diese (assoziative) Logik auch nur in Ansätzen auf Deduktion und Kausalität, auf Eindeutigkeit überhaupt herunterzubrechen. So sehr also der Leib, in den diese Seele untrennbar eingebettet ist, anatomisch, biochemisch und physikalisch betrachtet, (natur-) wissenschaftlichen Verfahren zugänglich ist, dem Satz der Identität also unterworfen werden kann, so wenig die Seele.

c) Subjekt-Subjekt-Beziehungen: In der dritten ‚Objektklasse‘, die von den Beziehungen der Subjekte untereinander gebildet wird, in der Gesellschaftlichkeit, stoßen die beiden anderen, Naturbeherrschung und Ich-Kontrolle, antinomisch aufeinander und durchdringen sich dennoch. Das muss so sein – wie immer man diese Beziehungen auch erfassen will. Daraus folgt: Eine Analyse, die hier durchgängig den Satz der Identität unterstellt, kann nur falsch sein, da ja das, was das Verhalten der die Gesellschaft konstituierenden Subjekte bestimmt, diesem Satz nicht in gleicher Weise wie die Natur unterworfen werden kann. Daraus folgt logisch ebenso, dass man auch die Psychoanalyse nicht umstandslos auf die Gesellschaftsanalyse übertragen kann, denn sie ist ausschließlich auf das einzelne, von seinem Leib begrenzte Individuum bezogen; so etwas wie ein Kollektivbewusstsein kann es zwar in diesem Individuum durchaus geben, aber nicht in der Gesellschaft: die hat kein Bewusstsein, kennt weder Ich noch Es noch Über-Ich.

Wir können nun das Problem einer jeden Gesellschaftsanalyse, also auch einer Situationsanalyse im Sinne Sartres, formulieren: Um ihrem Gegenstand gerecht zu werden, muss sie sich von reiner Objekt- wie reiner Subjektanalyse distanzieren, darin aber die Bedingungen reflektieren, die sie mit diesen beiden Verfahren verbindet. Zusammengefasst: eine Gesellschaftsanalyse, die ein einheitliches Verfahren angeben könnte, durch das hindurch sie ihren Gegenstand einheitlich – auf der Grundlage des Satzes der Identität – erfassen könnte, gibt es somit nicht und kann es nicht geben. So wenig wie eine prima philosophia gibt es eine prima sociologica. Dennoch: Es muss eine Einheit der Gesellschaftsanalyse geben. Ansonsten wäre sie unmöglich, oder, was ja zu den Prämissen der Postmoderne gehört, dem Belieben des Analysierenden anheim gegeben – was dasselbe ist. Infrage steht, wie diese Einheit zu fassen ist und ob der Hegelsche Materialismus der NML dies (und sei es zumindest vom Grundsatz her) leisten kann.

4. Antisemitismus und Folter

Kommen wie zuvor noch einmal auf Sartres Situationsanalyse zurück: Jede Darstellung des Sartreschen Begriffs der Situation, so knapp sie auch ausfallen mag, ist unzureichend, wenn sie nicht auf die Rolle zu sprechen kommt, die der Antisemitismus und Sartres Ausführungen zur Folter diesbezüglich einnehmen. Seine Überlegungen dazu wurden kurz nach der Fertigstellung von SN verfasst und können gelesen werden, als habe Sartre damit versucht, der in SN nicht eindeutig festgelegten Bestimmtheit darin, wie Situationen zu analysieren wären, die – aus SN ableitbaren – absoluten Grenzen aufzuzeigen und der Situationsanalyse damit eine inhaltliche Vorgabe zu liefern, die als so etwas wie deren Leitlinie verstanden werden kann.

Der Antisemitismus bezeichnet eine Situation, in der für eine bestimmte Gruppe von Subjekten, die Juden, nicht mehr gilt, was ansonsten, so graduell und marginal auch immer, jedem Subjekt möglich ist: auf seine spezifische Situation einzuwirken. Der Jude kann tun oder lassen, was er will, der Antisemit weiß immer schon im Vorhinein, vom Juden (oder den Fakten) unbeeinflussbar, was er, der Jude, ist oder tut, getan hat oder zu tun gedenkt. Der Antisemit hat die „totale Wahl“ getroffen: er hat beschlossen, diese Entscheidung, Antisemit zu sein, durch keine Erfahrung revidieren zu lassen. Sie markiert den absoluten Kontrapunkt zur Freiheit, ist Unfreiheit als solche. Der Jude bleibt zwar im Gegensatz dazu frei, aber seine Freiheit ist als solche unaufhebbar negativ, da der Antisemit ihr Ausleben von Grund auf ins Leere laufen lässt. Mehr noch: Der Antisemit muss den Juden töten wollen, da er sich des Wissens davon gar nicht erwehren kann, dass der Jude noch immer, anders als er, als ein Für sich weiterhin existiert, und er, der Antisemit, für die Entscheidung verantwortlich ist, dem Juden diese Existenz verwehren zu wollen. Dieses Wissen kann nur durch die praktische Aufhebung auch der Freiheit des Juden gelöscht werden – und diese Aufhebung ist anderes als durch Mord nicht zu haben.

Die Beziehung des Gefolterten zum Folterer ist, was die äußere Freiheit, die Handlungsfreiheit, betrifft, ebenso gegensätzlich bestimmt wie die des Juden zum Antisemiten. Aber in Bezug auf die innere Freiheit, um die es Sartre geht, die also, die jeder Handlungs- und Willensfreiheit noch zugrunde liegt, kann Sartre zeigen, dass der Folterer im Unterschied zum Antisemiten gerade auf diese situativ nicht aufhebbare Freiheit, die auch dem Gefolterten immer bleibt (und gegen die Marcuse wie Adorno so polemisieren), geradezu zielt, um die Qual der Folter des Leibes seelisch zu potenzieren: denn er bringt den Gefolterten in die Situation, zum Beispiel entscheiden zu müssen, ob er seine Genossen verrät. Der Antisemit auf der einen, der Folterer auf der anderen Seite, das sind die Eckpunkte aller Situationen insgesamt; in ihnen resultiert Freiheit in absolute Negativität.

Der Begriff der Situation selbst bleibt in sich dennoch unbestimmt, wenn auch in einer dem Begriff der Freiheit konträr gegenüberstehenden Weise – das heißt die Situation steht, wie die Entscheidung, auch im Verhältnis der Negation zu dieser Freiheit, eröffnet aber (normalerweise) die für das Ausleben der Freiheit notwendigen Perspektiven, sie stellt den Raum für die Erfahrung bereit, die das Subjekt als Grundlage für seine künftigen Entscheidungen zu verarbeiten hat. Was man über Situationen im allgemeinen einzig mit Gewissheit aussagen kann, ist, dass ihr keine, mehrere Situationen erfassende Struktur unterstellt werden kann – kein System, kein Prinzip, keine ahistorische Form; woraus natürlich nicht folgt, dass man in der jeweiligen (Gesamt-) Situation, in die man sich hineingestellt sieht, auf keine derartigen Bestimmungen zurückgreifen könne. Doch handelt es sich für Sartre bei solchen Abstraktionen, logischerweise, ebenfalls immer um negative: um solche, die die an der Konstituierung der Situation beteiligten Subjekte als ‚ihre‘ Objektivität gemeinsam fixieren; [20] um ‚Strukturen‘ also, deren Merkmal, objektiv zu sein, darauf beruht, dass eine Reihe von Subjekten (etwa eine Nation), die diese ‚Strukturen‘ für sich anerkennen, darin die Freiheit der Subjekte negiert haben. Deshalb ist Sartre das rote Tuch aller Strukturalisten, Postmodernen, aller Positivisten überhaupt. Aber nicht nur diese reagieren, wenn überhaupt, auf ihn gereizt: auch Marxisten – und hier nicht nur die Vertreter eines ‚wissenschaftlichen Sozialismus‘, sondern gerade auch die, die Marx philosophisch zu lesen verstehen – können ihm, wie man bei Elbe sehen kann, rein gar nichts abgewinnen.


 Anmerkungen:

[1] Ingo Elbe, Angst vor der Freiheit. Ist Sartres Existentialismus eine geeignete Grundlage für die Antisemitismustheorie?, in: Prodomo. Zeitschrift in eigener Sache, Nr. 14/2010, S. 46-56.

[2] Tjark Kunstreich, Die Freiheit, die ich meine. (K)eine Antwort auf Ingo Elbe, in: ebd., S.57.

[3] Sie befinden sich mit dieser Auffassung in ‚bester‘ Gesellschaft: Die beiden Aufsätze, auf die sie sich vor allem berufen können, und die dem Folgenden, auch ohne jedes Mal direkt angesprochen zu werden, zugrunde liegen, sind: Herbert Marcuse, Existenzialismus. Bemerkungen zu Jean Paul Sartres ‚L’Etre et le Néant‘ (1948), in: ders., Schriften, Bd. 8, Springe 2004, S. 7-40 und Theodor W. Adorno, Engagement (1962), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 11 (Noten zur Literatur), Frankfurt/M. 2003, S 409-430.

[4] Bei Sartre bezieht sich dieser Begriff auf den Rationalismus, insoweit dieser glaubt, die Welt in Teilbereiche aufteilen zu können und dennoch über diese Wahres aussagen zu können, also ohne die Bereiche, die zuvor ausgeschlossen wurden, berücksichtigen zu müssen. Darüber aber wird das Teil zum Ganzen gemacht, denn Wahrheit ist als bloße Teil-Wahrheit nun einmal nicht zu denken.

[5] Was sich natürlich dem verschließen muss, der Kant, wie die NML Sartre, mit dem Hinweis auf Hegel für obsolet erklärt. Die Behandlung, die einige Autoren aus dem Umkreis der NML Sohn-Rethel angedeihen lassen (vgl. etwa Tobias Reichardt, Aporien der soziologischen Erkenntnistheorie Alfred Sohn-Rethels, in:  Wissenschaftliche Mitteilungen, H. 6/2008 (Gesellschaftliche Praxis und ihre wissenschaftliche Darstellung. Beiträge zur Kapital-Diskussion), hrsg. v. Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition e.V., S. 242-267), ist nur damit zu erklären, dass man jede Reflexion einfach verweigert, sobald es jemand wagt, einem mit den Fragen nach einer angemessenen Erkenntnistheorie zu nahe zu treten.

[6] Schon aus pragmatischen Gründen, um den Umfang nicht noch weiter auszudehnen, wird im Folgenden auf diese Vorarbeiten (und auch auf die Diskussionen nicht: die sind zwar meist von entscheidenderer Bedeutung als Veröffentlichungen, aber naturgemäß nur schwer zu zitieren) bis auf einige Ausnahmen nicht verwiesen. Die, die das betrifft, wissen auch so Bescheid.

[7] Es geht im Folgenden, wie in der Einleitung angesprochen, nicht um politische Zuordnungen, sondern um Philosophie, und zwar um deren erkenntnistheoretischen Kern. Schon deshalb soll Elbe gar nicht unterstellt werden, er rechne sich politisch dem Kommunitarismus zu; er nutzt ja auch lediglich ein Argument Taylors, um Sartres philosophischen Entwurf logisch erledigen zu können. Das ist, aus welcher schmuddeligen Ecke das Argument auch kommen mag, vom Prinzip her legitim. Ansonsten dürfte man etwa auch über das Verhältnis von Souveränität und Ausnahmezustand in der Gesellschaftsanalyse nicht reden, weil Carl Schmitt der erste war, der substantiell Richtiges dazu gesagt hat. Dass dies im Resultat dann dennoch durchaus handfeste politische Folgen haben kann, und in diesem Fall auch drohen, ist natürlich alles andere als ausgeschlossen, aber kein Thema des vorliegenden Artikels.

[8] Natürlich bildet die Bindung an den Leib des Individuums eine Bedingung der Existenz dieser Freiheit, so wie selbstredend diese Freiheit nie rein, das heißt nie ohne einen Bezug auf ein ihr Äußeres erscheinen kann, und so wie ein Wort, oder ein Zeichen, nie ohne Bedeutung ins Bewusstsein treten kann (wie die Dadaisten in ihrem Scheitern, sinnlose Zeichen zu kreieren, bewiesen haben). Man kann aber Zeichen und Bedeutung sehr wohl nicht nur trennen, sondern muss dies tun, um eine Identität (wofür allerdings das Symbol bzw. der Repräsentant steht) zwischen Wort und Bedeutung überhaupt erst herstellen zu können. Diese Identität von vornherein als nicht auflösbare Einheit zu betrachten, unterscheidet im Kern die Ontologie (für die letztlich deshalb alles in Symbolik aufgeht) von der Transzendentallogik, der die Verringerung der Differenz von Begriff und Sache zwar eine ständige Aufgabe bedeutet, die aber weiß, dass diese Differenz nie vollständig zum Verschwinden gebracht werden kann und darf, wenn Freiheit möglich bleiben soll. Es geht bei den Voraussetzungen der Freiheit, kurz gesagt, darum, dass es keine Bestimmung im Verhältnis der Freiheit zu allem ihr Äußeren (philosophiegeschichtlich: dem Verhältnis von Leib und Seele) gibt, die ihr logisch (oder von Natur aus) vorangestellt werden könnte.

[9] Diese Reflexion kommt dem Menschen bei Sartre nicht von Natur aus zu, ist allerdings auch nicht – wie bei Aristoteles etwa – den Philosophen vorbehalten, sondern verdankt sich der Konfrontation des Subjekts mit Objekten, denen er dieselbe Freiheit wie sich selbst zugestehen muss.

[10] „Im Kantschen Verständnis ist ein freier Wille, der weder von Naturgesetzen noch von intelligiblen moralischen Gesetzen bestimmt ist, nichts, ‚ein Unding’“, meint Elbe. Dieser Auffassung ist Kant tatsächlich. Elbe hat hier jedoch nicht nur in Bezug auf Kant, sondern wohl auf die allermeisten anderen Philosophen einfach Recht. Nur Sartre macht eine Ausnahme – und genau das sollte diesen für eine Gesellschaftskritik doch zumindest interessant machen.

[11] Dieser Zusammenhang von Reflexion und Angst deckt sich mit den Erkenntnissen der Psychoanalyse, weswegen hier die diffizile Begründung Sartres nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden muss.

[12] Sartre, um genau zu sein, spricht, wenn er explizit von dieser Trennung redet, immer von Ding an sich, Ding für sich und Negation: das hat durchaus berechtigte, der philosophischen Klarheit verpflichtete Gründe. Für unsere Zwecke können wie aber beim Subjekt-Objekt Dualismus bleiben.

[13] Die Stelle von Sartre, die Elbe in diesem Zusammenhang zitiert – ohne dass allerdings klar würde, was die mit Elbes Argumentation zu tun hat –, sei hier, weil sie Sartres Verhältnis zu Kant tatsächlich auf den Punkt bringt, wiedergegeben: „Das transzendentale Ich ist der Tod des Bewusstseins.“. Dem kann einfach nicht widersprochen werden.

[14] So ist es denn auch mit der Einheit des Ichs: Diese kann ich nur denken, wenn ich mir mein Ich zum Gegenstand mache, mich also zu mich selbst in Differenz setze.

[15] Das kann natürlich auf vielfältigste Art geschehen, vom Einverleiben von Nahrung über Inbesitznahme eines Gegenstandes bis hin zur libidinösen Bindung an Personen. Sartre handelt eine Vielzahl der Arten des Für-sich-Werdens in SN ab. Festzuhalten ist hier, dass dieses Für-sich-Werden des An-sich, da es durch Negation Getrenntes überbrückt, auch für ein Denken offen ist, das hierzu ein vermittelndes Drittes (etwa das Geld, den Staat beziehungsweise das Recht) heranzieht. Für Sartre ausgeschlossen ist allerdings, dass sich dieses Dritte, wie bei Hegel der Geist, verselbständigt, und zum An und Für sich außerhalb des individuellen Denkens wird. Und hier liegt, wie noch deutlich werden wird, denn auch der wirkliche Grund für die Probleme, die die Kritische Theorie zu Recht mit Sartre hat.

[16] Dass gerade der Anti-Systemiker Adorno diesen Vorwurf gegen Sartre erhebt, obwohl doch gerade er sofort hätte erkennen müssen, dass Sartre nun wirklich als andere als ein Systematiker ist, kann nur bedeuten, dass er sich auf dessen Philosophie nicht wirklich eingelassen hat. Hätte er dies, dann wäre ihm auch sofort seine zweite Gemeinsamkeit mit Sartre aufgefallen: dass nämlich Anti-Systematik auf keinen Fall den Verzicht auf Totalität impliziert, im Gegenteil. Da er keine allen Dingen inhärente einheitliche Logik kennt, ist der Nicht-Systematiker unmittelbar vor die Notwendigkeit gestellt, seine Gegenstände in die Totalität zu stellen: nur von hier aus, von ihrem Außen – von allem also, von dem sich die behandelten Gegenstände abgrenzen (von dem, was sie alles nicht umfassen), können sie ihre tatsächliche, endgültig ausgewiesene Geltung und Bedeutung erlangen. Gerade dieser Bezug auf Totalität unterscheidet Sartre, der sich als Franzose quasi ‚urwüchsig’ in die Tradition von Descartes stellt, vom kartesianischen Rationalismus.

[17] So sehr die Situation einen eigenständigen Wirklichkeitsbereich darstellt, gebildet wird sie von den Bestimmungen, die Sartre dem Subjekt zuschreibt. Gegen Philosophen wie Levinas, die diese Bestimmungen aus der Situation heraus vornehmen, und darüber zu einem euphemistischen Begriff von ‚dem Anderen’, dem Du usw. kommen, polemisiert er heftig. Über einen Begriff wie den von einer ‚herrschaftsfreien Kommunikation’ hätte Sartre wohl nur schallend gelacht.

[18] Sartre kritisiert also die allzu schnelle Bereitschaft der Subjekte, sich als (von jeder Verantwortung freie) Opfer statt als (voll verantwortliche) Täter zu begreifen. Die Problematik liegt hier keineswegs darin, dass hiermit einer gängigen Täter-Opfer-Verkehrung das Wort geredet würde – das kann Sartre an keiner Stelle unterstellt werden –, sondern darin, dass das Differenzprinzip der Verteilung der Verantwortung von Sartre nicht angegeben werden kann.

[19] Mehr noch, kann der Philosoph hinzufügen: wenn das Ich auf sich selbst reflektiert, sich also selbst zum Gegenstand macht, ist das logisch nur möglich, indem es seinen Ort wechselt, von einer Seite einer Differenz auf die andere übergeht. Ob dieser Ortswechsel zwischen Ich und Über-Ich stattfindet, mag aus psychoanalytischer Sicht fragwürdig sein, philosophisch muss man das Ich jedenfalls als in sich differenziert denken, sonst könnte es nicht auf sich selbst reflektieren.

[20] Es geht bei diesen ‚Fixierungen’ um alle ehemaligen, auch im Hinblick auf eine Zukunft hin getroffenen Entscheidungen. Damit ist, eigentlich überflüssig zu erwähnen, jeder geschichtsphilosophischen oder teleologischen Interpretation der Wirklichkeit ein Riegel vorgeschoben, von einer ontologischen ganz zu schweigen.

 

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