Das vollends aufgeklärte Gesetz
Dasein und Erscheinung der Juden kompromittiert die bestehende Allgemeinheit durch mangelnde Anpassung.
Theodor W.Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung
Vielleicht ist es eine List der Unvernunft, die Kritik an ihr gerade da zu erwischen, wo sie am schwächsten aufgestellt ist. Über Jahre hinweg hat diese Kritik gegen die vermeintlich revolutionäre Maßnahme, die auf das Recht pfeift und das abstrakte Gesetz als Ausdruck höchster Unvernunft denunziert, den verhältnismäßig fortschrittlichen Charakter des bürgerlichen Rechts hervorgehoben. 1 Diese Wertschätzung des abstrakt-allgemeinen Gesetzes ging mit einer vertiefenden Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Rechtstheorie und der Rezeption der bürgerlichen wie postmarxistischen Kritik an ihr einher.
Im Vergleich zum materiellen Rechtsbegriff des Nationalsozialismus erscheint der Rechtspositivismus der bürgerlichen Rechtsstaaten als Hort der formellen Gleichheit. Dass diese Gleichheit die Grundlage der kapitalistischen Reproduktion bildet, wurde dabei häufig in Kontrast zur Ungleichheit anerkennenden wie zementierenden Ungleichheitsvorstellungen der Nazis gesetzt und als das kleinere Übel, das es eben auch ist, angesehen. Aber über den dialektischen Zusammenhang von bürgerlicher Gleichheit, die die Ungleichheit zu ihrer Voraussetzung hat und beständig reproduziert und ihren Umschlag in die Gleichheit der Artgenossen wurde leider häufig kein Wort mehr gesagt. Der Zusammenhang wurde dann geopolitisch aufgelöst, und das Land, das diesen Umschlag als erstes aktiv ins Werk setzte, gegen diejenigen Länder ausgespielt, die - gerade weil sie bei dieser Entwicklung nicht so weit fortgeschritten waren - ihre bürgerliche Voraussetzung bewahren und als ihr kulturelles Erbe verklären konnten. 2 Während die Juden in den USA allgemeine Bürgerrechte genossen, wurden ihnen diese in Deutschland während des Nationalsozialismus aberkannt und dadurch der Weg zu ihrer Vernichtung geebnet. Für die Juden galt in Deutschland nicht mehr das Bürgerrecht, sondern das Rassengesetz, das sie entrechtete und dadurch erlaubte, sie ihrem von den Deutschen erwählten Schicksal zuzuführen. Die Gleichheit der deutschen Volksgenossen duldete keine Ungleichheit. Erst dieser Ausschluss der Juden aus dem homogenen Gesetzeskorpus, dem jedes Rechtssubjekt ohne Ansehen der Person gleichermaßen unterworfen ist, machte den legalen Ausschluss der Juden möglich. Nimmt Justitia ihre Binde ab, ist das Ergebnis nicht ein gerechteres, weil die Unterschiede anerkennendes Urteil. Die sehende Gerichtsbarkeit sanktioniert den Unterschied, von dessen Zusammenhang mit der Gleichheit die blinde nichts wissen darf.
Sichtbare und unsichtbare Unterschiede
Ich halte dieses Zeichen (die Beschneidung, N.M.) für so wichtig, dass es meiner festen Überzeugung nach an sich schon genügt, um die gesonderte Existenz der Nation für immer zu behaupten.
Baruch Spinoza, Theologisch-politischer Traktat
Die antisemitische Gesetzgebung zerstörte also den Rechtsstaat und sonderte die Juden von der restlichen Bevölkerung. Grundlage hierzu war eine Ideologie, die von der wesenhaften Ungleichheit von Juden und Ariern ausging, diese Ungleichheit aber nicht im Sichtbaren, sondern im Unsichtbaren suchte (z.B. im Blut), weil der vermeintliche Rassenunterschied nicht ins Auge fiel. Die Segregation musste also auf dem Amtsweg, durch Polizei und Gerichte, hergestellt und der Unterschied durch den Judenstern sichtbar gemacht werden.
Der von den Juden selbst gemachte Unterschied, die Beschneidung, reichte den Nazis nicht, weil sie insbesondere auch vor den „nicht-jüdischen Juden" Angst hatten. Die konvertierten Juden oder die Kinder aus „Mischehen“ stellten ihrer Meinung nach eine viel größere Gefahr dar als die Juden, die dem Klischee entsprachen. Denn mehr noch als von den Juden, die durch Attribute ihres Glaubens als Juden erkennbar waren, wurde die antisemitische Paranoia von der jüdischen Weltverschwörung, von den „nicht-jüdischen Juden" befeuert, die als Juden, nach der Definition der Nürnberger Rassengesetze, nicht erkennbar waren. Nicht umsonst kam die Vorstellung vom jüdischen und muslimischen Blut in Spanien zu der Zeit auf, als Juden und Muslime sich der Diskriminierung durch Konversion entziehen wollten. Der rassische Antisemitismus will einen Unterschied (wieder-)herstellen, die Aufklärung will Unterschiede einebnen. 3
Wenn in der aktuellen Beschneidungsdebatte der Unterschied thematisiert wird, den die Juden und Muslime selber machen, verweist das nicht auf ein rassisches Vorurteil der Deutschen, sondern auf den atheistischen, postnazistischen Charakter der Beschneidungskritik, die im Namen der Aufklärung auftritt. Passend dazu wurde von eben dieser Kritik die Gefahr einer Sondergesetzgebung hervorgehoben. Würde den Juden ein Sonderrecht zugestanden, würde, so lautet das Argument, dies den Rechtsstaat im oben beschrieben Sinne gefährden, weil dann nicht mehr alle Bürger vor dem Gesetz gleich wären. Die Juden, und insbesondere die jüdischen Verbände, die in dieser Situation das jüdische Beschneidungsritual verteidigten, erschienen als Wiedergänger der jüdischen Verteidiger des Ghettos im 19. Jahrhundert, als im Namen der Emanzipation die Ghettomauern geschliffen wurden. Wie diese ein Privileg gefordert hätten, um weiterhin die Mauern um ihre Gemeinschaft ziehen zu dürfen, was mit dem Gleichheitsgrundsatz des aufgeklärten Staates nicht vereinbar ist, so täten dies heute die Beschneidungsbefürworter. Auf diese Weise wurde in der Debatte das allgemein-abstrakte Recht ein Mittel, um die Juden als Feinde der Aufklärung und des Rechts zu identifizieren. Die von vielen Juden in diesem Zusammenhang geäußerten Ängste hingen mit dieser Instrumentalisierung des Rechts zusammen. Nicht mehr nur vom Mob ging eine unmittelbare Gefahr und Verfolgung von aus, woran man sich in gewisser weise schon gewöhnt hatte, sondern der Staat selbst sollte dazu eingespannt werden. Indem die Juden darauf beharrten, durch die Beschneidung einen Unterschied machen zu dürfen, passten sie nicht mehr in die vollends aufgeklärte deutsche Gegenwart, die die Lehren aus der Vergangenheit gezogen hat. „Eine Religion, die eine regelmäßige Körperverletzung von Minderjährigen […] im Programm hat, steht in einem Dauerkonflikt mit wesentlichen Zielen der Verfassung - und zwar umso tiefgreifender, je freiheitlicher und säkularer der Staat ist" 4 Das antisemitische Ressentiment, das sich auf der Höhe der Zeit artikuliert, zeigt sich nicht im rassischen Gewand, sondern im aufgeklärt-antirassistischen. 5 Gerade durch den aufgeklärten Impetus vermochte die kritische Kritik die Juden als gestrige, überholte darzustellen, so dass es kein Zufall war, dass eines der am meisten gebrauchten Attribute in diesem Zusammenhang das des Archaischen war. Wer etwas als archaisch bezeichnet, wähnt sich in der Entwicklung darüber hinaus, denkt sich als auf einer höheren Stufe stehend. Die aufgeklärte Kritik knüpft also an ein Entwicklungsmodell an, in dem das Überholte minderwertig und Fortschritt durch zeitlichen Progress bewirkt wird. 6 Der säkulare Rechtsstaat gilt in dieser Sichtweise als Höhepunkt der Entwicklung und das Grundgesetz als Resultat erfolgreich bewältigter Vergangenheit. 7 Dieser säkulare Staat müsse gegen die archaischen Ansprüche der Religion verteidigt werden, denn: „Wir sind nicht umstellt von finsteren Laizisten, sondern von Zumutungen des Religiösen, die immer mehr Raum gewinnen.“ 8 Und: „Hinter die einmal erreichte Säkularisierung soll nicht zurückgefallen werden.“ 9
Es ist also alles ganz einfach: Auf der einen Seite stehen religiöse Zwangskollektive, die den auf der anderen Seite stehenden atheistisch-aufgeklärten Staat herausfordern, indem sie seine Grundlage, die abstrakte Rechtsgleichheit seiner Bürger, unterminieren. Um zu zeigen, dass es etwas komplizierter ist, muss die Debatte in den Zusammenhang von Staat und bürgerlicher Gesellschaft gestellt und mit besonderem Augenmerk auf die Judenemanzipation, die Religionsfreiheit und das elterliche Erziehungsrecht betrachtet werden.
Highway to Hell
Die Fürsprecher der unitarischen Toleranz sind denn auch stets geneigt, intolerant gegen jede Gruppe sich zu kehren, die sich nicht anpaßt: mit der sturen Begeisterung für die Neger verträgt sich die Entrüstung über jüdische Unmanieren.
Theodor W. Adorno, Minima Moralia
Juden werden wegen ihres Jahrtausende alten Ritus in einer Vielzahl von Beiträgen gemäß dem alten antisemitischen Stereotyp als primitiv, archaisch und blutrünstig dargestellt; die religiöse Beschneidung und deren Befürworter passen angeblich nicht in eine moderne Zeit und in ein demokratisches Gemeinwesen.
American Jewish Committee, Fakten und Mythen in der Beschneidungsdebatte
Der Weg in den Schoß des Staates verläuft wie folgt: Die Kritik an der Jungenbeschneidung speist sich aus drei Motiven: aus dem Glauben an die gesundheitliche Schädlichkeit der Beschneidung, aus der Kritik der formellen Ungleichbehandlung der Juden und Muslime, für die ein Privileg bzw. ein Sonderrecht gelten würde und zuletzt aus dem Wunsch, dem patriarchalen Unterwerfungsritual ein Ende zu bereiten - manchmal soll dies nur für das muslimische Ritual gelten, manchmal für das muslimische und das jüdische (Frantzen). Die Gewichtung der Motive kann bei den unterschiedlichen Beschneidungsgegnern unterschiedlich ausfallen, unter Umständen mag eines der Motive sogar ganz fehlen. Doch im Grundsatz stimmen alle Beschneidungsgegner darin überein, dass von Dritten nicht aus nichtmedizinischen Gründen die körperliche Unversehrtheit eines Kindes angetastet werden darf, da ein solcher Eingriff gegen das Kindeswohl verstoße und der Staat damit den religiösen Gemeinschaften das Recht einräume, das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit zu verletzen.
Die Entscheidung zu einem solchen Eingriff obliegt dieser Vorstellung zufolge allein demjenigen, dessen körperliche Integrität angerührt werden soll. Eine Beschneidung kann also erst erfolgen, wenn die entsprechende Person in die Operation selbst einwilligen kann. Die Befähigung zur Einwilligung beruht auf der Mündigkeit des Bürgers, also auf dessen Vermögen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Maßgabe dieses Vermögens ist die mögliche Allgemeingültigkeit des Resultats der Verstandesbemühung. Das allgemeine Gesetz würde sich hiernach als Ausfluss der vereinigten Einzelanstrengungen ergeben, die harmonisch übereinstimmen, weil jedes einzelne Resultat schon ein verallgemeinerbares ist. Wird dennoch eine demokratische Abstimmung des Gesetzgebers gefordert, also des Demos oder seines Repräsentanten, so nur deshalb, weil Irrungen im Einzelfall, nicht aber bei der Mehrheit möglich sind. Das so zustande gekommene, allgemeine Gesetz muss jedoch jeden Bürger als formal gleich behandeln, also ohne Ansehung seines Geschlechts, seiner Hautfarbe, seiner Religion oder seines Standes, will es nicht seine eigenen Voraussetzungen untergraben. Dadurch wird das Individuum, aus seinen konkreten Verhältnissen und Bindungen gelöst, als abstrakte Rechtsperson betrachtet. Und eben nur diese abstrakte Rechtsperson darf für sich im Staat Geltung beanspruchen, weil jede Beschlagnahmung der Person durch andere Kollektive als Zerstörung der Verallgemeinerungsfähigkeit der Resultate des Verstandesvermögens eben dieser Person betrachtet wird. Der aufgeklärte Staat sieht sich als Resultat und Sachwalter der zum Allgemeinwillen vereinigten Einzelwillen. Was also nicht sein darf, was einen solchen Staat von innen heraus zerstören würde, wären Parteiungen, die die atomistischen Subjekte in Beschlag nehmen und dadurch die Grundlage des Staates unterminieren würden. Religiöse Gemeinschaften, die für sich das Recht einfordern, Kinder zu beschneiden, die sie als zu ihrer Einheit zugehörig identifizieren, wären solche Parteiungen, weil sie die personalen Grundrechte, die jedem einzelnen Bürger als solchem zukommen, unter ihren kollektiven Anspruch stellen würden. Mit dem Bürger und seinen Rechten würden sie den Grundbaustein des Staates zerstören und an die Stelle der staatlichen Einheit ein Sammelsurium eben so vieler Einheiten stellen, wie es Parteiungen gibt.
Die Juden stellten für aufgeklärt-atheistische Staatstheoretiker und Politiker von Anfang an einen Stolper- und Prüfstein dar. 10 Es lassen sich grob zwei Möglichkeiten unterscheiden, um die Souveränität der staatlichen Einheit gegen die Juden durchzusetzen: die der französischen Revolution und die der preußisch-aufgeklärten Reaktion. Für erstere steht die Forderung des Grafen Stanislas de Clermont-Tonnerre: „Den Juden als Nation muss man alles verweigern; als Individuen muss man ihnen alles zugestehen.“ 11 Die zweite hat Saul Ascher 1815 in seinem Buch „Germanomanie“ so beschrieben: „Christentum und Deutschheit war bald in eins verschmolzen; dieses ist für den transzendentalen Idealisten und Identitäts-Philosophen ein leichter Prozess. Es ward so von ihnen gefolgert. Deutschlands Rettung von dem Joche der fremden Tyrannei kann nur vorbereitet werden, durch Einheit und Einigkeit des Volkes in der Idee. Die Einheit und Einigkeit in der Religion spricht dies Erforderniß ganz aus […] Es darf nicht befremden, daß nach den Ansichten dieser enthusiastischen Idealisten […] von ihnen vorzüglich von den Juden ein Gegensatz dieser Lehre gefunden ward, und daraus läßt sich erklären der rohe und abschreckende Ton, in welchem am Ende des achtzehnten Jahrhunderts von Fichte […] an, bis herab auf seine Schüler und Verehrer, gegen Judenthum und Juden losgestürmt ward.“ 12 Während die französische Variante den Juden als Individuum zum Bürger umschmelzen möchte, den Juden als organisiertes Kollektiv jedoch keinerlei Rechte zugestehen kann, verhält es sich mit dem christlich-idealistischen Staat umgekehrt, er kann den Juden Sonderrechte gewähren, die ihnen als Kollektiv zukommen, diesem Kollektiv muss dann aber jeder einzelne Jude zugeschlagen werden, dem deshalb auch keine individuellen Bürgerrechte zugestanden werden können. Für beide Varianten aber gilt, was Fichte schrieb, noch bevor er im Befreiungskrieg zum Deutschtümler wurde: „Möchten doch immer die Juden nicht an Jesum Christum, möchten sie doch sogar an gar keinen Gott glauben, wenn sie nur nicht an zwei Sittengesetze und an einen menschenfeindlichen Gott glaubten, - Menschenrechte müssen sie haben, ob sie gleich uns dieselben nicht zugestehen; denn sie sind Menschen, und ihre Ungerechtigkeit berechtigt uns nicht, ihnen gleich zu werden. Zwinge keinen Juden wider seinen Willen, und leide nicht, daß es geschehe, wo du der nächste bist, der es hindern kann; das bist du ihm schlechterdings schuldig. Wenn du gestern gegessen hast und hungerst wieder, und hast nur auf heute Brot, so gieb es dem Juden, der neben dir hungert, wenn er gestern nicht gegessen hat, und du thust wohl daran. Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sey.“ 13
Solange die Juden sich verbunden fühlen durch ein gemeinsames Gesetz, sind sie ein Kollektiv, durch das sich die staatliche Souveränität herausgefordert fühlt. Sowohl dem christlichen Staat standen deshalb die Juden als Staat im Staate gegenüber als auch dem aufgeklärten Staat, sofern sich die Juden nicht in diesen hinein emanzipierten und das hieße aufzuhören, als Juden zu existieren. Als Gruppe stehen die Juden dem Staat quasi exterritorial gegenüber oder haben den Status von Metöken.
Bauer und Marx zur Judenfrage
Über seine Rassenvorurteile hat aber der Deutsche kein klares Bewußtsein; er sieht in seinen naturwüchsigen wie in seinen geistigen Bestrebungen keine deutschen, echt germanischen, sondern 'humanistische' Tendenzen: er weiß nicht, daß er diesen letzteren nur in der Theorie, jenen ersteren in der Praxis allzusehr huldigt.
Moses Hess, Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätsfrage
Die Aufklärung hatte den Juden das Angebot gemacht, sich vom Judentum zu emanzipieren und als Citoyen vom Souverän anerkannt und geschützt zu werden. Doch selbst diese Fähigkeit zur Emanzipation wurde ihnen von aufgeklärter Seite bestritten. An der Debatte um die Frage, ob und inwiefern die Juden dazu fähig seien, frei zu werden, nahmen Bruno Bauer und Karl Marx teil. Da diese Debatte auch die für die aktuelle Beschneidungsdebatte relevante Frage des Verhältnisses von bürgerlicher Gesellschaft und Staat und deren Verhältnis zur Religion behandelt, ist sie auch heute noch von Interesse. 14
Bauer vertritt eine universalistische Position, nach der alle Menschen ihr religiöses Bekenntnis abzulegen haben, um Teil der Menschheit zu werden. Die Beschneidung mache den Juden zum Juden und die Taufe den Christen zum Christen. Beide Riten machten den Menschen zum Glied einer Gemeinschaft und trennten ihn auf diese Weise von der Menschheit. Insofern Bauer die Notwendigkeit der Emanzipation für Juden und Christen betont und das beiderseitige „Verlangen und Streben nach Emancipation“ (BB, 136) herausstellt, werden Judentum und Christentum als gleichartige Hindernisse auf dem Weg zur Freiheit hingestellt. Doch Bauer stellt klar, dass er sich als Ziel gesetzt hat, zu erforschen, „in welchem Verhältnisse die Juden zu dem Endzweck stehen, […] ob sie der Freiheit näher stehen, als die Christen, oder ob es ihnen noch schwerer fallen muß als diesen, freie Menschen und zum Leben in dieser Welt und im Staate fähig zu werden.“ (BB, 136f.)
Was geprüft werden soll, ist die Eignung der Juden zum Staatsbürger, und das Kriterium hierbei ist ihr Stand innerhalb des geschichtsphilosophisch konstruierten Verlaufs der Geschichte, also ihre Stellung zum geschichtlichen Endzweck der Freiheit. Dieser Endzweck realisiert sich im atheistischen Staat, der das Christentum hinter sich gelassen hat und nicht wie der christliche Staat seinen Geist von der höherstehenden Religion empfängt.
„Wenn der Staat als Werk der Sittlichkeit ausgeführt wird, so ist sogar die Substantialität, in welcher er sonst noch als fertiges Ganze, welchem die Einzelnen sich nur hinzugeben haben, vorausgesetzt wird, aufgehoben und die Innerlichkeit und schöpferische Unendlichkeit des Selbstbewußtseins, aus welcher er ohne Aufhören sich schaffen muß, im höchsten Grade anerkannt. Und welche Vertiefung des Subjekts gehört dazu, wenn es in diesem Sinne dem Staate lebt! Welche Selbstverleugnung, welche Aufopferung! Der Staat, welcher in diesem Sinne die Schöpfung des Selbstbewußtseins ist, ist nicht mehr der christliche, weil er nicht mehr der geistlose ist. Sein Unterschied von dem christlichen Staate besteht darin, daß er nicht mehr der äußern Ergänzung oder Bevormundung durch die Kirche bedarf. Er hat seine Unendlichkeit in sich zurückgenommen.“ 15
In einem solchen Staate gibt es keine Juden und keine Christen, keine Privilegien mehr, sondern nur noch Menschen. Eine Judenemanzipation, die die Juden aus dem Ghetto in den Staat hinein befreit, ohne dass die Juden sich dabei von der Religion emanzipieren, ist für Bauer eine bloß scheinhafte Emanzipation, ein bloßer Sophismus. Das hieße nämlich, „er [der Jude, N.M.] ist und bleibt Jude, trotz dem, daß er Staatsbürger ist und im allgemein menschlichen Verhältnissen lebt: sein jüdisches und beschränktes Wesen trägt immer zuletzt über seine menschlichen und politischen Verpflichtungen den Sieg davon.“ (BB, 137)
Ist der Staat die Verkörperung der Freiheit und der Endzweck der Geschichte, so besitzen seine Gesetze die höchste Geltung. Dass die Juden noch andere Gesetze anerkennen, die für Bauer „im Grunde über dem Staate“ (BB, 138) stehen müssten, erscheint ihm als Frevel. Denn über dem Staat kann es keinen anderen Gott geben, da ist Bauers Gott mindestens ebenso eifersüchtig wie der der Juden.
Karl Marx hat auf Bauer, seinem einstigen Mentor, in seiner Schrift „Zur Judenfrage“ geantwortet. Er versucht darin, die Argumentation von Bauer von zwei Seiten her außer Kraft zu setzen: Erstens bestreitet er, dass der Staat der Endpunkt der Geschichte ist, wodurch dessen Anspruch an die Subjekte, sich vollständig in ihn zu entäußern, in Frage gestellt wird und zweitens versucht er den ahistorischen Charakter des Judentums dadurch zu widerlegen, dass er Judentum und bürgerliche Gesellschaft miteinander identifiziert.
Marx stellt die Frage: „Hat der Standpunkt der politischen Emanzipation das Recht, vom Juden die Aufhebung des Judentums, vom Menschen überhaupt die Aufhebung der Religion zu fordern?“ (KM, 351) „Politisch“ ist hier hervorgehoben, weil die Aufhebung der Religion durch den Staat eben nur die politische Aufhebung der Religion, also die Emanzipation des Staates von der Religion meine und diese Emanzipation nicht gleichbedeutend sei mit der allgemeinen menschlichen Emanzipation. Die politische Emanzipation sei nur eine unzureichende, da der Staat die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft nicht aufzuheben vermag, sondern den dort tobenden Krieg aller gegen alle voraussetze und garantiere. Indem die politische Revolution den politischen Charakter der feudalen Stände mit ihren Privilegien auflöse, entließe sie die unabhängigen Individuen, „deren Verhältnis das Recht ist“ (KM, 369), aus deren Einheit. Das Individuum als Monade sei nun die Grundlage der staatlichen Allgemeinheit. Über die partikularen Interessen der Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft erhebe sich zwar der Staat, aber dessen Allgemeinheit ist Marx zufolge eine unwirkliche, in ihr ist der Mensch nur „das imaginäre Glied einer eingebildeten Souveränität“ (KM, 355).
Als Staatsbürger sei der Mensch Teil eines imaginären Ganzen und führe als solcher eine öffentliche Existenz. Aber daneben sei der Mensch auch Teil der bürgerlichen Gesellschaft, in der er ein privates Leben führe und seinen egoistischen Interessen nachgehe. Diese Spaltung ist für Marx die Ursache dafür, dass der Staat nur eine imaginäre Allgemeinheit zustande bringe. Mit der widersprüchlichen Existenz bestehe nämlich die Ursache der religiösen Entfremdung fort, und der demokratische Staat hebe sie nur scheinbar auf, so dass er sich wie der Himmel zur Erde verhalte.
Dadurch wird auch das Verhältnis zur Religion berührt. Die religiöse Einheit steht nicht mehr über dem Staat, als deren weltlicher Arm er sich betätigte, sondern zerstäubt und sinkt als religiöser Geist in die einzelnen Monaden. Dem Staat spricht Marx den göttlichen Charakter nur in blasphemischer Absicht zu, den Bauer ihm vollkommen ernst beilegt. 16 In solchen politischen Verhältnissen bedürften die Menschen noch des religiösen Opiums, doch ohne die Verbindung zum Thron, hat die Religion eine andere Funktion als noch im christlich-absolutistischen Staat. Im aufgeklärten Staat wird der Glaube zur Privatsache. Durch die politische Emanzipation befreit sich der Mensch von der Religion, indem er den Staat von der religiösen Bevormundung befreit und die Religion „aus dem öffentlichen Recht in das Privatrecht verbannt. […] Sie [die Religion, N.M.] ist nicht mehr das Wesen der Gemeinschaft, sondern das Wesen des Unterschiedes. Sie ist zum Ausdruck der Trennung des Menschen von seinem Gemeinwesen, von sich als und den anderen Menschen geworden – was sie ursprünglich war. Sie ist nur noch das abstrakte Bekenntnis der besonderen Verkehrtheit, der Privatschrulle, der Willkür.“ (KM, 356)
Die oben gestellt Frage, ob die politische Emanzipation vom Menschen die Aufgabe der Religion verlange könne, wird von Marx also verneint. Als Beweis für die Richtigkeit seiner Antwort gilt ihm das Beispiel der USA. Denn die USA hätten den politischen Staat am vollständigsten herausgebildet, „[d]ennoch ist Nordamerika vorzugsweise das Land der Religiösität, wie Beaumont, Tocqueville und der Engländer Hamilton aus einem Munde versichern.“ (KM, 352) Der politische Staat verhält sich neutral zur Religion seiner Bürger, deren Religionsfreiheit er ihnen rechtlich garantiert.
Für Bauer war die Existenz des formellen Rechts Ausweis dafür, dass die Allgemeinheit nur eine abstrakte, unzureichende sein kann. Er hätte also ebenso wie Marx die Unzulänglichkeit einer solchen Emanzipation betont und auf eine weitergehende gepocht. Aber anders als bei Marx soll die vollkommene Allgemeinheit bei ihm im Staat realisiert werden. 17 Bauer strebt einen Staat an, der die Individuen auflöst, und als Momente seiner eigenen Bewegung eingliedert, während Marx die Privatsphäre gegenüber staatlichem Eingriff zu schützen sucht. Er verteidigt damit das Recht der Individuen, sich unterhalb der staatlichen Sphäre zu Glaubensgemeinschaften zu vereinigen. Bei Bauer wird der Staat zu einer Kirche, zu einem von einem Geist beseelten Ganzen, durch das die Existenz des Einzelnen ihren Sinn erfährt. Bauer, der nur noch Menschen und keine Juden und Christen mehr kennen will, muss diese und insbesondere die als archaisch und verstockt denunzierten Juden umso verbissener als Feinde identifizieren.
E Pluribus Unum
Der bürgerliche – allgemeine Gleichheit proklamierende – Nationalismus enthielt schon immer in nuce sein Anderes, die auf der Grundlage allgemeiner formaler Gleichheit durchgesetzte konkrete Ungleichheit.
Redaktion Bahamas, Naives Wollen
Der Faschismus ist der totale Kapitalismus, existierend in seiner Negation.
Brief Max Horkheimer an Henryk Grossmann
Der aufgeklärt-säkulare Staat nach dem von Marx favorisierten Vorbild der USA verhält sich nicht besserwisserisch zu den einzelnen Religionen, sondern neutral. 18 Er kann sich nur so zu ihnen verhalten, weil er nichts Bestimmtes von einem höheren Wesen wissen kann. Der Gott, auf den der Staat vertrauen mag, wie z.B. in den USA, ist eine Leerformel für alle möglichen Götter, an die die Untertanen privat glauben mögen. Gläubige glauben daran, zu diesem Wesen einen privilegierten Zugang zu haben und daran, dass es ohne die von diesem Wesen offenbarte Erkenntnis keinen Sinn in der Welt gibt. Der säkularisierte Staat bestreitet diese Erkenntnis nicht, er weiß nur nichts davon. Würde er sich zu einem Glauben bekennen, müsste der Staat sich dieser Religion unterordnen.
Gewissensfreiheit, Bekenntnisfreiheit und die Freiheit des Kultes gehören unzertrennlich zusammen. Hat der Staat einmal anerkannt, dass es nicht ihm obliegt, über den richtigen Glauben zu urteilen, hat er sich eines Urteils vollkommen zu enthalten und alle Kulte und Bekenntnisse gleich zu behandeln. Die unterschiedlichen Zugänge zur Erkenntnis haben ihm gleichgültig zu sein. Gleiches gilt auch für den Atheismus, dessen Glaube an eine rein wissenschaftliche Beantwortbarkeit der Frage nach dem Sinn der Welt und der menschlichen Existenz er nicht bevorzugt, sondern wie die religiösen Antworten zu behandeln hat. Überschreitet der säkulare Staat diese Grenze, verhält er sich nicht mehr neutral, wird er zu einem quasi religiösen Staat, der für sich beansprucht, ein sittliches, sinnvolles Ganzes zu sein, egal ob er sich für eine Religion entscheidet und z.B. ein christlicher Staat wird oder ob er sich für das aufgeklärt-atheistische Weltbild entscheidet.
Die Religion steht allerdings auch nicht außerhalb des Staates und da, wo dieses Freiheitsrecht mit den anderen Freiheitsrechten und Gesetzen in Widerspruch gerät, endet die Religionsfreiheit. Im Einzelfall müssen die verschiedenen Freiheitsrechte gegeneinander abgewogen werden. Eine Körperverletzung wird durch die Religionsfreiheit allerdings nicht gedeckt.
Für Gläubige ist es ein Problem, in einem säkularen Staat zu leben, der nicht aus der höheren Erkenntnis schöpft. Sie leben in einer gespaltenen Welt, in einer Welt, in der es in ihrem privaten Bereich die Möglichkeit gibt, sich der Religion zuzuwenden, sich als Teil eines sinnvollen Ganzen zu wissen und auf der anderen Seite zu einer Teilnahme an einer Öffentlichkeit gezwungen zu sein, die ihren Grund in der Schwebe hält, weil sie von einem solchen Zugang nichts wissen darf. Das heißt nicht, dass die Religion nicht öffentlich in Erscheinung treten darf - das Gegenteil ist der Fall -, aber die Öffentlichkeit muss allen Religionen den Zugang zu ihr gewähren und darf keine bevorzugen.
In den USA haben die Gründungsväter diesen Erfordernissen einer zersplitterten Gesellschaft gerecht zu werden versucht, indem sie gerade in der Vielzahl unterschiedlicher Interessengruppen, Parteien und Glaubensgemeinschaften das Mittel sahen, deren jeweiligen Anspruch zu begrenzen. 19 Sie haben in den Parteiungen und unterschiedlichen Sekten keine Gefahr der Einheit, sondern ihren Quell gesehen. Die Aufgabe der Verfassung besteht darin, eine Machtarchitektur zu schaffen, die verhindern soll, dass es eine Partei oder Gruppe schafft, die gesamte Macht zu okkupieren. „Während sich hier [in der föderativen Ordnung der Vereinigten Staaten; N.M.] alle Autorität von der Gesellschaft ableitet und von ihr abhängig ist, ist die Gesellschaft selbst in so viele Teile, Interessen und Schichten von Bürgern aufgesplittert, daß den Rechten einzelner oder der Minderheit nur wenig Gefahr von Interessenzusammenschlüssen der Mehrheit droht. In einer freiheitlichen politischen Ordnung muß die Sicherung für bürgerliche Rechte dieselbe sein wie die für religiöse Rechte. Im einen Fall besteht sie in der Vielfalt der Interessen und im anderen in der Vielfalt der religiösen Sekten. Der Grad der Sicherheit hängt in beiden Fällen von der Anzahl der Interessen und Sekten ab; und diese Anzahl wiederum wird vermutlich von der Ausdehnung des Landes und der Zahl der Menschen abhängen, die unter derselben Regierung zusammengefaßt sind.“ 20 Durch den gesellschaftlichen Antagonismus hindurch soll sich ein Gemeinwille bilden, den die Regierung exekutiert. Der gesellschaftliche Antagonismus soll nicht durch den Staat aufgehoben werden, sondern in seinem antagonistischen Charakter, kaum durch staatliche Umverteilungsprogramme gemildert, in seiner ganzen Härte bestehen bleiben. 21 Amerika erschien Hergel deshalb als eine „Gesellschaft ohne Staat“. 22 Diese Gesellschaft zerfällt darüber hinaus nicht nur in verschiedene Sekten, Schichten und Interessen, sondern mit zunehmender Einwanderung auch in verschiedene Volksgruppen. Dadurch haben die Juden in den USA nicht nur als Konfession, sondern auch als Volk Israel Platz. 23
Der hier aufgemachte Gegensatz zwischen zwei Varianten des aufgeklärten Staates, nämlich dem homogenen und dem pluralen, bürgerlichen Staat ist nur ein gradueller. Denn auch wenn in Amerika die Gesellschaft viel stärker in ihrer Eigenständigkeit gegenüber dem Staat hervortritt, kann auch sie nicht auf Homogenität verzichten. Gleiches Recht gibt es nur für die Gleichen, also nur für diejenigen Menschen, die als Staatsbürger anerkannt werden. Die durch die Verfassung in ihrer Pluralität bestimmte Einheit setzt die Gleichheit der Bürger als Bürger voraus. Und eben diese Gleichheit sichert den Rechtssubjekten zusammen mit der Gewaltenteilung und dem Rückwirkungsverbot des Gesetzes ein „Minimum an Freiheit“ (Franz Neumann), auf der anderen Seite aber hat diese Gleichheit ihren Geltungsgrund im Souverän. Der Souverän ist nicht der Andere des Rechts, sondern dessen Grund. Durch die Gleichsetzung der Individuen als Rechtssubjekte in und durch den Souverän, wird die Homogenität erzeugt, die die Grundlage für die auf ihr ruhende Pluralität ist. Die Freiheit der Rechtsperson, die das Recht absichert, ist an die Reproduktion der Gesellschaft gebunden. Gelingt diese nicht mehr, tritt das Recht zurück und der Souverän hervor.
In der Krise kann die Verfassung die Einheit der Gesellschaft nicht mehr sicherstellen. Die Verfassung vermag das nicht, weil die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens, auf die die Verfassung die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und Individuen verpflichtet, Gegenstand eines Konflikts und damit der Desintegration werden können. Die Diskussion über in der Verfassung verbriefte Rechte, ihre Reichweite und Gewichtung transzendieren den von der Verfassung gesetzten Rahmen, da durch Gesetzgebung und -interpretation stets Anpassungen des Rechts an die durch die gesellschaftliche Dynamik veränderte Situation vorgenommen werden müssen. Die Verfassung vermag nicht mehr als sichere Richtschnur zu dienen, wenn der Konflikt zwischen den gesellschaftlichen Gruppen sich auf die Interpretation der Verfassungsnormen erstreckt. Zu der Zentrifugalkraft der gesellschaftlichen Dynamik, die die Verfassung nicht in Zaum zu halten vermag, muss eine Zentripetalkraft treten. Steckt die Verfassung das Feld ab, auf dem über Inhalte gestritten werden kann, wird in der Krise die Frage virulent, wer überhaupt mitstreiten darf, wer dazugehört. Die Inanspruchnahme der bürgerlichen Rechte setzt die Anerkennung als Gleicher voraus, die die Krise in Frage stellt. Solange die Gesellschaft sich mehr oder weniger erfolgreich zu reproduzieren vermag, kann der Schein aufrecht erhalten werden, jeder könne sein eigenes Glück verfolgen und dadurch das Gemeinwohl befördern. In der Krise, wenn sich die unterschiedlichen Interessen nicht mehr durch Vermittlung zu einer Einheit fügen lassen, hängt die Einheit von der Mobilisierung gegen einen gemeinsamen Feind ab. Die gemeinschaftschädigenden Eigenschaften des Feindes kommen diesem ebenso sehr von Natur aus zu, wie dem Einzelnen seine Rechtssubjektivität – sie sind das Produkt falschen Bewusstseins, das die verkehrte Gesellschaft hervorbringt. Weil die gesellschaftlichen Verhältnisse schon im Zuge des normalen kapitalistischen Verkehrs als natürliche fetischisiert werden, kann im Ausnahmezustand der Schein kassiert werden. „Die Horde, […], ist kein Rückfall in die alte Barbarei, sondern der Triumph der repressiven Egalität, die Entfaltung der Gleichheit des Rechts zum Unrecht durch die Gleichen.“ 24 'Der Jude' ist die naturalisierte Erscheinung des Kapitals, durch dessen Ermordung die Krise exorziert werden soll. Das nackte egoistische Interesse geht in der Horde nicht unter, sondern kalkuliert mit ihr, um auf Beute hoffen zu können, denn in der Krise geht der liberale Glaube an die Gemeinwohl befördernde Kraft der individualistischen Konkurrenz in Scherben. Der Feind schweißt die Gruppen zu einer Einheit zusammen und gibt ihr eine Verfassung. 'Der Jude' wird zum Vexierbild des Bürgers, der dem Bürger als Gegentyp in diesem Bild gegenübersteht. Nicht aus der Fähigkeit des Bürgers, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, erwächst das allgemeine Gesetz, sondern aus der Feindschaft gegen 'den Juden', der durch die pathische Projektion des krisengeschüttelten Bürgers entstanden ist. Im Ausnahmezustand tritt der Souverän hervor, synthetisiert die Bürger zu einer schlagenden Einheit und bezieht seine Legitimität daraus, dass er durch das gemeinschaftsstiftende Ziel der Bekämpfung des Feindes der Gleichen die entfesselten Egoismen befriedigt. Der Souverän transponiert den gesellschaftlichen Kampf aller gegen alle auf 'den Juden' und verhindert so den Zerfall.
In Deutschland ist dieser Umschlag die Grundlage des bundesrepublikanischen Staates und die Erfahrung mit dem Rechtsvorgänger liefert dem deutschen Staat heute den Vertrauensvorschuss, der hilft, den sozialen Frieden sicherzustellen. 25 Auch wenn nach 1945 in Deutschland wieder zur Tagesordnung übergangen, der Rechtsstaat wieder aufgerichtet wurde und die Männer aus dem Krieg wieder heimkehrten, blieb die Erfahrung radikaler Krisenlösung, wie sie 12 Jahre lang durchexerziert wurde, im Kollektivgedächtnis eingebrannt und bildete die Grundlage der deutschen Verfassung. Die auch im Ausland viel gelobte Erinnerungspolitik hält, egal wie viele Tränen dabei verdrückt werden, die Erinnerung an diese Möglichkeit wach. Das wohlige Erschauern darüber, was möglich ist, wenn ein Volk wie ein Mann gegen den Feind losschlägt und sich holt, was es seiner Meinung nach verdient, ist die Grundlage des Erfolgs der Legionen von NS-Dokumentationen im Fernsehen. Der deutsche Bürger vertraut auf die souveräne Maßnahme zur rechten Zeit und im Vertrauen darauf lässt er sich einiges gefallen. Dass diese Maßnahme gar nicht mehr nötig ist, weil das Gesetz in Deutschland zu einem technischen Instrument verkommen ist und der Ausnahmezustand in das Recht eingelassen wurde, macht es der Regierung möglich, stets den Schein des normalen Vollzugs zu wahren. Gerade die souveräne Stellung der Regierung wurde in der Beschneidungsdebatte dafür genutzt, die Juden vor einer anderen Instrumentalisierung des Rechts zu schützen.
Die Göttin der Vernunft
Denn religiös müssen wir wieder werden – die Politik muss unsere Religion werden – aber das kann sie nur, wenn wir ein Höchstes in unserer Anschauung haben, welches uns die Politik zur Religion macht. […] Der Staat ist der unbeschränkte, unendliche, wahre, vollendete, göttliche Mensch. Der Staat erst ist Mensch. – Der Staat der sich selbst bestimmende, sich zu sich selbst verhaltende – der absolute Mensch.
Ludwig Feuerbach, Notwendigkeit der Reform der Philosophie
Wenn Thierry Chervel von der Internetseite Perlentaucher schreibt: „Es ist vielleicht ein Kennzeichen religiöser Streitfragen, dass sie erst gar nicht erst gestellt werden sollen, denn schon die Frage nach der Existenz Gottes kratzt an der Autorität der Priester“, so ist das sein gutes Recht, sieht er doch das Ziel der Debatte in der Debatte selbst. 26 Aber die Debatte wurde geführt, weil ein Gericht in seinem Urteil die Autorität der „Priester“ eingeschränkt wissen wollte, der Streit um die Autorität der Priester also schon eine rechtliche Dimension hatte. 27 Und Chervel hat die Tiefe der in diesem Fall verhandelten Streitfrage falsch eingeschätzt, weil selbst noch die Antwort der sich aufgeklärt wähnenden Akteure einen religiösen Charakter trägt. Die religiöse Zumutung, von der er in seinem Artikel spricht, geht also viel weiter, als er meint.
Als Beispiel für diese Art von religiöser Zumutung kann das Beiratsmitglied der Giordano-Bruno-Stiftung Holm Putzke dienen, der mit seinen juristischen Arbeiten zum Thema Beschneidung erst den Stein ins Rollen brachte. Auf seine Arbeiten berief sich das Landgericht Köln maßgeblich in seinem Urteil. Dieses Urteil und die Debatte, die danach ausbrach und sich insbesondere auf die jüdische Beschneidung kaprizierte, machte ein Gesetz zur Regelung der Beschneidung erst erforderlich. In eben diesen Arbeiten von Putzke ist der Atheismus ein mythischer Glaube an die Wissenschaft.
„'Welchen Nutzen verspricht die religiöse Beschneidung?', fragt der Strafrechtler Holm Putzke, um dann forsch zu postulieren: 'Er muss messbar und rational begründbar sein, sonst könnten religiöse Handlungen etwa mit dem Seelenheil nach dem Tod gerechtfertigt werden und ließen jegliche Abwägung beliebig werden'. Diese Formulierung muss stutzig machen: Dass Menschen sich auf die Sorge um das 'Seelenheil nach dem Tode' (ein längst zum Klischee geronnenes klassisches Motiv christlicher Pastoral) berufen, wenn sie für ihre religiösen Überzeugungen und Praktiken innerhalb der Rechtsordnung Respekt verlangen, wird hier schlicht als juristisch unbeachtlich beiseite gefegt.
Dahinter steht ein schwerwiegender Kategorienfehler. Natürlich kann ein Gericht nicht selbst zu theologischen Fragen des 'Seelenheils' Stellung nehmen, die außerhalb juristischer Argumentation verbleiben müssen. Dass eine entsprechende religiöse Überzeugung, einschließlich der davon getragenen Lebenspraxis, innerhalb der Rechtsordnung Berücksichtigung finden soll, ist aber gerade die Pointe des Menschenrechts der Religionsfreiheit. Die Rechtsordnung öffnet sich auf diese Weise für die Achtung menschlicher Grundüberzeugungen, ohne deshalb etwa, wie oft befürchtet, in 'blinder Toleranz' ihren eigenen normativen Geltungs- und Gestaltungsanspruch aufzugeben. Daher ist die Religionsfreiheit natürlich nicht, wie in der öffentlichen Debatte immer wieder unterstellt, ein Freibrief für die Verletzung anderer hoher Rechtsgüter. Abwägungen und gegebenenfalls Beschränkungen der Religionsfreiheit sind möglich, müssen allerdings sämtlichen dafür vorgesehenen Kriterien genügen, wie sie etwa in Artikel 18 Absatz 3 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte festgeschrieben sind.
Wenn sich dagegen die von Putzke formulierte Logik durchsetzen sollte, wonach nur solche religiösen oder weltanschaulichen Motive im Rahmen der Rechtsordnung berücksichtigt werden können, die sich eins zu eins in allgemein nachvollziehbare rationale Argumente bzw. in messbares Nutzenkalkül transponieren lassen, wäre dies nichts weniger als das Ende der Religionsfreiheit.“ 28
Aber die Argumentation von Putzke stellt nicht nur die Religionsfreiheit in Frage, wie hier Heiner Bielefeld richtig festgestellt hat, sondern geht auch von einem sehr aufgeladenen Begriff des Nutzens aus. Denn wie soll der Nutzen einer Handlung beurteilt werden? Ob eine Handlung nützlich ist, lässt sich nur daran ermessen, ob sie dem intendierten Zweck dienlich ist. Aber nur wenn der Zweck ein allgemeiner, objektiver wäre, ließe sich verbindlich ermessen, ob eine Handlung nützlich dabei ist, ihm näher zu kommen.
Der Nutzen ist im Gegensatz zu dem, was das Seelenheil innerhalb eines rationalisierten Glaubens ist, kein Endzweck, kein Telos, das sich an objektiven Erkenntnissen orientieren kann, sondern eine subjektive Kategorie, die jeder nur selber ermessen kann. 29 Indem Putzke einzelnen Bürgern die Befähigung abspricht, den Nutzen ihrer Handlungen richtig bewerten zu können, spricht er ihnen die Eignung zum Bürger ab. Bürger, die unfähig sind, ihr eigenes Interesse wahrzunehmen, müssen durch einen Vormund vertreten werden und das wäre in diesem Falle Vater Staat bzw. ein staatliches, wissenschaftliches Gremium wie z.B. der nationale Ethikrat. Wer seinen Nutzen nicht im Sinne des das Gemeinwohl garantierenden Staates bestimmt, über den soll bestimmt werden. Oder: Was nützlich für jeden Einzelnen ist, das bestimmt der Staat. Allerdings könnten auch die Wissenschaftler oder Politiker nicht objektiv über wahre und falsche Bedürfnisse befinden, doch durch ihre autoritative Entscheidung wäre der gesellschaftliche Streit beendet und die Einheit sichergestellt. Auctoritas, non veritas facit legem. (Hobbes)
Das Schlupfloch der Willkür
Wir schaffen heute zunächst einmal die notwendige Gleichartigkeit; erst dann kann wieder eine vernünftige und gerechte Gleichheit herrschen; erst dann können wieder formale Normen ihren Lauf nehmen, die eine sinnvolle Legalität in sich enthalten.
Carl Schmitt, Das gute Recht der deutschen Revolution
Recht ist das Urphänomen irrationaler Rationalität. In ihm wird das formale Äquivalenzprinzip zur Norm, alle schlägt es über denselben Leisten. Solche Gleichheit, in der die Differenzen untergehen, leistet geheim der Ungleichheit Vorschub; nachlebender Mythos inmitten einer nur zum Schein entmythologisierten Menschheit.
Theodor W. Adorno, Negative Dialektik
Die Argumentation Putzkes zielt ganz im Sinne der Giordano-Bruno-Stiftung darauf ab, Religionsfreiheit zu unterminieren und als höchste Norm die Freiheit von der Religion einzusetzen. Unter der Hand wird hier im Gewand des aufgeklärten Rechts eine antisäkulare Position vertreten. Die höhere Legitimität wird gegen die Legalität ausgespielt und das nicht, um dem staatlichen Recht im Namen der Versöhnung sein Recht zu bestreiten, sondern um das staatliche Recht zu substantialisieren.
In der Beschneidungsdebatte geschah dies durch die Beschneidungsverbotsbefürworter in folgenden Schritten: Zum ersten wurde die Freiheit von der Religion zur höchsten Norm erklärt, wodurch im weiteren strikt rechtspositivistisch argumentiert werden konnte. 30 Es wird hier das Problem deutlich, dass durch Interpretation auch eine Normsetzung bewirkt werden kann, der interpretierende Jurist in Gestalt des Richters also seine vom Rechtsstaat vorgesehene Kompetenz übersteigt. 31 Im nächsten Schritt wurde das Recht von dieser Norm aus interpretiert und diese Interpretation dann auf den Fall der religiösen Jungenbeschneidung appliziert.
Um den Vorgang dieser Neuinterpretation und ihrer Anwendung vollständig zu verstehen, müssen noch weitere Argumente der Beschneidungsverbotsbefürworter mit einbezogen werden. Denn der Versuch die bisherige Interpretation zu ersetzen bedurfte eines Mittels, durch das der Zugriff des Staates auf das Kind sichergestellt werden sollte. In der Beschneidungsdebatte bedienten sich die Beschneidungsgegner der Generalklausel des Kindeswohls, um dies zu erreichen. 32 Bei einer Generalklausel handelt es sich um eine Norm, die sehr weit gefasst ist, so dass durch ihre Anwendung auf einen konkreten Tatbestand weitgehende Wertungen eingelassen werden können. Da diese Wertungen der Auslegung offen stehen, eröffnen die Generalklauseln der Willkür Tür und Tor. So selbstverständlich das Wohl des Kindes ein hohes Gut ist, so unbestimmt bleibt, was für das Kindeswohl das Beste ist.
Das elterliche Erziehungsrecht ist das Scharnier zwischen der Religion und dem Kind, das die Beschneidungsgegner aushebeln wollten, um das Verbot der Beschneidung zu erreichen. Das Kindeswohl war dafür der passende Hebel, denn neben der Religion hätten sie vor allem die Rechte der Eltern einschränken müssen, weil Jungenbeschneidung aus religiösen Überzeugungen geschieht, die die Eltern der Jungen haben. Da die Eltern auch das Recht haben, über die religiöse Erziehung ihrer Kinder zu entscheiden, setzen die Beschneidungsverbotsbefürworter hier an. Als Beispiel und Bebilderung der Argumentation der Beschneidungsgegner sei das Plädoyer von Reinhard Merkel angeführt, der als Rechtsphilosoph im Deutschen Ethikrat sitzt:
„Jede aktive Entfaltung eigener Freiheit, sei es der Religion, der Kunst, des Gewissens oder der, den eigenen Arm zu schwingen, endet an der Nase des andern (um von dessen Vorhaut nicht zu reden). […] In Wahrheit hat die Religionsfreiheit der Eltern in den Erwägungen zur Legitimation der Beschneidung ihrer Kinder keinen Platz. […] Hier gibt es nichts abzuwägen. Das folgt aus dem rechtstheoretischen Fundament, dem Vernunftbegriff personaler Rechte, vor allem des Rechts am eigenen Körper. Einer Auskunft des Bundesverfassungsgerichts bedarf es dafür nicht. [...]
Der gängige Einwand liegt auf der Hand: Für die Beschneidung werde ja eine Einwilligung vorausgesetzt - die der Eltern. Und diese seien als Sorgerechtsinhaber genau dazu berechtigt. Vielleicht. Aber nicht kraft ihrer Religionsfreiheit, sondern eben allenfalls kraft ihres Sorgerechts. Als Recht zur Erziehung erlaubt es selbstverständlich zahlreiche Eingriffe in Grundrechte der Kinder, auch - und freilich in engen Grenzen - in das der körperlichen Integrität.
Aber das Sorgerecht ist, anders als das der Religionsausübung, kein Freiheitsrecht der Eltern. Es ist ein treuhänderisches Mandat, es ist Pflicht mindestens so sehr wie Recht. Seine verbindliche Maßgabe ist deshalb das Wohl der Kinder, nicht die Autonomie der Eltern. Darüber 'wacht', heißt es in Artikel 6 des Grundgesetzes, 'die staatliche Gemeinschaft'. Das Elternrecht, sagt das Bundesverfassungsgericht, 'ist wesentlich ein Recht im Interesse des Kindes'. An dessen Wohl findet es daher seine zwingende Grenze.“ 33
Herr Merkel hat selbstverständlich zunächst einmal recht, die Religionsfreiheit kann nicht als Argument für eine Körperverletzung herhalten. Im zweiten Schritt aber bestreitet er im Falle einer Beschneidungsabsicht mit Verweis auf das Kindeswohl das elterliche Recht auf religiöse Erziehung, um es dem Staat zu übertragen. Dabei ist es nicht grundsätzlich problematisch, die Frage zu stellen, ob die Beschneidung dem Kindeswohl schadet, wohl aber problematisch, diese Frage nur rhetorisch zu stellen. Weil der Junge über sein Wohl noch nicht selber entscheiden kann, weil er noch keine Rechtsperson ist, muss jemand anderes darüber entscheiden, was zu seinem Wohle ist. 34 Im Absatz 2 des Artikel 6 des Grundgesetzes heißt es dazu: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“
Natürliche Rechte sind Rechte, die dem Menschen von Natur aus zukommen sollen und deshalb als dem Staat vorgelagert gedacht werden. Die Menschenrechte sind solche natürlichen Rechte, sie haben u.a. die Funktion, die Bürger vor Übergriffen des Staates zu schützen, aber auch die kapitalistische Grundordnung und ihr oberstes Gebot, das Privateigentum, sicherzustellen. Zu dieser Eigentumsordnung gehört das Eigentum am eigenen Körper, über den niemand ohne Einwilligung des Eigentümers verfügen darf. 35 Die Legitimation des Rechtsstaates basiert unter anderem darauf, dass er die natürlichen Rechte in positives Recht umwandelt und sich dadurch Grenzen setzt. Seine Crux liegt darin, dass er seine Machtfülle selbst beschränkt und staatliche Institutionen über die Einhaltung der gezogenen Grenzen wachen. Laut Artikel 6 des Grundgesetzes haben die Eltern das Recht, ihre Kinder zu erziehen, was letztlich darauf zurückzuführen ist, dass die Eltern die Besitzer ihrer Kinder sind, über die sie treuhänderisch verfügen. Doch die Einschränkung, die die Befugnis des Staates hierdurch erhält, wird durch den folgenden Satz aus Absatz 2 des 6. Artikels mit einem Vorbehalt versehen: „Über ihre Betätigung (die der Eltern; N.M.) wacht die staatliche Gemeinschaft.“ Damit liegt die letzte Entscheidung in der Hand des staatlichen Souveräns. Durch das von Reinhard Merkel angeführte Wächteramt erhebt der Staat Anspruch auf den Leib seiner unmündigen Bürger. Der antirassistische Charakter der Beschneidungskritik wird durch diesen Anspruch auf die muslimischen und jüdischen Jungen unterstrichen. Aber gerade weil diese Kritiker die Jungen für den deutschen Staat reklamieren, können sie nicht ertragen, dass noch ein anderes als das staatliche Kollektiv Anspruch auf die Kinder erhebt.
Zwischen dem Kindeswohl und der staatlichen Verfügungsgewalt über das Leben seiner Bürger besteht ein direkter Zusammenhang, der in der Vergangenheit klarer zu Tage trat als heute. So kam z.B. das Verbot der Kinderarbeit in Preußen nur zustande, weil die Generalität die Wehrtauglichkeit der neuen Rekruten durch Kinderarbeit schwinden sah. Der Schutz des Kindeswohls sollte sicherstellen, dass die Kinder in besserer Verfassung das wehrfähige Alter erreichten, um im Ernstfall ihrer Verpflichtung zum Opfer nachzukommen. „Der Staatsbürger ist [...] nicht länger Richter über die Gefahr, der er sich auf Verlangen des Gesetzes aussetzen soll; und wenn der Fürst gesagt hat: ‘Dein Tod ist für den Staat erforderlich’, so muß er sterben, da er nur auf diese Bedingung bisher in der Sicherheit gelebt hat und sein Leben nicht mehr ausschließlich eine Wohltat der Natur, sondern ein ihm bedingungsweise bewilligtes Geschenk des Staates ist.” 36 Weil der sterbliche Gott Staat neben sich andere Götter, nämlich andere Staaten erdulden muss, muss er den Tod seiner Bürger einfordern können, will er wenigstens ein Gott unter Göttern sein.
Gesetze der Unterwerfung
Er spürte in sich eine erregende Macht, von der er bislang nichts gewusst hatte. Er war der Unbeschnittene. Er war ein Mann, auf den die Frauen nur schwer verzichten konnten.
Physisch schwer verzichten konnten, hatte Maimonides gemeint, etwa in dem Sinne, dass den Unbeschnittenen in der Frau ein Knoten schwoll wie ein Hund? Oder emotional in dem Sinne, dass die Frau ganz berauscht von des Unbeschnittenen unermüdlicher Wollüstigkeit war?
Beides, entschied er.
Er war der Unbeschnittene, und er hatte gesprochen. Beides.
Howard Jacobson, Die Finkler-Frage
Zumindest als Gedankenexperiment sollte es auch einem Atheisten möglich sein, zu bedenken, dass es einen Gott gibt, der z.B. die Beschneidung gefordert hat. Eltern, die daran glauben, wollen die Beschneidung zum Wohle ihres Jungen. Das besagt selbstverständlich noch nichts. Anders als Merkel behauptet, gibt es sehr wohl etwas abzuwägen und die Rede vom Kindeswohl wird dadurch problematisch. Was abgewogen werden müsste, wären die Folgen der Beschneidung für den Jungen mit den verbürgten Freiheitsrechten, die auch und gerade Abwehrrechte gegen den Staat sind. Anders als es die Beschneidungsgegner wollen, sind die bisherigen Forschungserkenntnisse die Folgen der Jungenbeschneidung betreffend nicht eindeutig und das wird sich so schnell auch nicht ändern. 37 Zudem verhalten sich die Forscher nicht neutral zu ihrem Untersuchungsgegenstand, was die Ergebnisse ihrer Forschung von der jeweils anderen Seite in Frage stellen lässt. Was fraglich bleibt, sind die langfristigen Folgeschäden der Beschneidung.
Die deutsche Debatte um das Kindeswohl kaprizierte sich auf die beschnittenen Penisse, weil hier die Folgen eines gewaltsamen Eingriffs klar ersichtlich schienen. Doch ginge es wirklich um die realen Folgen der Beschneidung für das Kind, hätte weniger der Penis des Jungen in Betracht gezogen werden müssen als die jeweiligen Rituale.
Die jüdische Beschneidung unterscheidet sich von der muslimischen maßgeblich durch das Alter des Jungen und die mit dem Alter zusammenhängende Verschiebung der Bedeutung des Rituals. Das jüdische Ritual wird an einem Baby ohne ausgebildetes Bewusstsein vollzogen. Es dient dazu, den Jungen in den Bund des Volkes Israel mit seinem Gott aufzunehmen und es dadurch dem Gesetz Gottes zu unterstellen, welches ihnen das Menschenopfer verbietet, wofür die Beschneidung der Ersatz ist. Die muslimische Beschneidung wird an viel älteren Jungen vollzogen. Zu diesem Ritual gehört auch ein großes Fest im Kreis der Familie. Hier ist die Beschneidung insbesondere für den Jungen von besonderer Bedeutung, denn durch sie wird er zu einem Mann und es wird von ihm verlangt, sich auch so zu benehmen. Der Junge erlebt die Beschneidung bewusst und erfährt durch sie eine Aufwertung. Der Schmerz und das Opfer der Vorhaut sind der Preis für die Anerkennung als Mann. Das soll ihm eine Lehre sein. Beide Rituale dienen der Unterwerfung, doch während das jüdische Baby den jüdischen Gesetzen unterworfen wird, wird der muslimische Junge in erster Linie der muslimischen (Männer-)Gemeinde unterworfen. Letzteres ist ein klassischer Initiationsritus, der dazu dient das Inzesttabu aufzurichten und den Jungen in der Phase des ödipalen Konflikts gewaltsam aus der Bindung zu seiner Mutter zu lösen.
Die Beschneidung ist ein gewaltsamer Vorgang, aber Gewalt hat in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen und Folgen. Man sprach in Deutschland lieber über Penisse als über Unterwerfungsrituale, lieber über das durch blutige Gewalt beschädigte Kindeswohl als über die Rituale der Unterwerfung unter das Gesetz des Rackets. Die Eltern, die ihre Jungen beschneiden, wurden als schlechte Eltern vorgeführt, ganz gleich, um welches der beiden Rituale es sich jeweils handelte. Wer Gewalt in der Erziehung anwende könne kein guter Elternteil sein. Dass die Erziehung der geschichtliche Erbe des Initiationsritus ist, konnte hierdurch verdrängt werden, wie der blutige Penis überhaupt dabei half, sich über den gewaltsamen Charakter von Erziehung zu betrügen. „So werden die Knaben im Hinterlande von Liberia etwa im zehnten Lebensjahre gewaltsam nach dem Zauberwald, dem Grigribusch entführt, wo sie einige Monate in Abgeschiedenheit leben und kollektiv Unterricht in Tanz, Waffenführung, Rechtslehre und den Sexualgeboten und -verboten erhalten. Dieser Unterricht wechselt in anmutiger Weise mit Tätowierung, Beschneidung und anderen grausamen und schmerzhaften Riten ab. Im Zauberbusch verbirgt sich die erste Schule. Der Unterschied mag sehr beträchtlich, mag imponierend sein, der zwischen dieser Urschule und unseren heutigen verwickelten Unterrichtsinstitutionen besteht. Es ist dennoch das gleiche Prinzip, die spezifische Organisation der Übermittlung von bestimmten Kenntnissen, die von der Gesellschaft für nötig gehalten werden, von ihren Beauftragten unterrichtet, von den Kindern gelernt werden. Und ein Stück des uralten Sadismus, ein Schimmer jener Aggressionsorgie, in deren Dunstkreis die Schule erstmals erfunden wurde, verklärt sie noch heute, gehörte ihr ausnahmslos jederzeit, einmal in hellem Strahlen, einmal in dumpfem Glimmen, zu.“ 38 Verdrängen die Eltern den gewaltsamen Aspekt der Erziehung, dem sie selbst nicht entraten können, liegt die projektive Entledigung des schlechten Gewissens nahe. Umso wahrscheinlicher wird dies da, wo die Liebe allein herrschen soll. Eine Strafverfolgung der Juden durch den Gewaltmonopolisten im Namen des Kindeswohls wäre solchen zur Liebe geläuterten Deutschen ein Etappensieg im Kampf gegen die patriarchale Vernunft. 39
Um dem zu entgehen wird von den Juden eine Sublimierung der Beschneidung hin zu einem symbolischen Akt verlangt, wodurch sie den zivilisatorischen Stand des durchschnittlichen Deutschen erlangen könnten. 40 Versprochen wird ihnen, sie könnten durch diese gleichsam „zweite Beschneidung […] vorbehaltlos zum neuzeitlichen Bürgertum“ dazugehören. 41 Doch diese Anpassung wäre die an ein Bürgertum „das schon unaufhaltsam zum Rückfall in die bare Unterdrückung, zu seiner Reorganisation als hundertprozentige Rasse vorwärts“ geschritten war und erneut schreitet - sie gliche deshalb blankem Selbstmord. 42
Dem Rechtsstaat wäre es kaum möglich gewesen, nur die muslimische Beschneidung zu verbieten, weshalb sich die Kritik der Forderung nach einem Beschneidungsverbot allein schon aus diesem Grund enthalten hätte müssen. Dem rechtsstaatlichen Gedanken der Verfügungsgewalt über den eigenen Körper wäre das höhere Alter der muslimischen Jungen sogar eher entgegen gekommen. 43 Aber auch diejenigen, die die generelle Forderung nach einem Beschneidungsverbot erhoben und vorrangig auf die Muslime zielten, haben die neue Judenkritik bestenfalls als Kollateralschaden auf den Weg in den aufgeklärten Staat der Gleichen in Kauf genommen. Auch steht die Kritik in Deutschland nicht vor der Option, zwischen aufgeklärtem Rechtsstaat und der Bedrohung durch muslimische Rackets wählen zu können. Denn wie der Gesamtverlauf der Debatte von ihrem Anlass bis zu ihrer Beendigung durch das Beschneidungsgesetz gezeigt hat, sieht sich die Kritik auf der einen Seite mit den muslimischen Rackets und auf der anderen Seite mit dem postnazistischen, deutschen Rechtsstaat konfrontiert.
Der postnazistische Tauschhandel: Schutz für Credibility
Auf das Bündnis mit der Zentralgewalt blieb der Jude auch im neunzehnten Jahrhundert angewiesen. Das allgemeine, vom Staat geschützte Recht war das Unterpfand seiner Sicherheit, das Ausnahmegesetz sein Schreckbild. Er blieb Objekt, der Gnade ausgeliefert, auch wo er auf dem Recht bestand.
Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung
Die Beschneidungsgegner haben sich nicht durchsetzen können, der Bundestag hat ein Gesetz zur Legalisierung der Beschneidung unter Auflagen verabschiedet. Der Wortlaut des Gesetzes ist auf die Erfordernisse der jüdischen Beschneidung zugeschnitten. Die Muslime, davon kann man nach Verlauf der Debatte und dem Text des Beschneidungsgesetzes ausgehen, sind lediglich sekundäre Nutznießer. Der Vorgang lässt sich als Gewährung eines Sonderrechts interpretieren, das sich die Juden unter Berufung auf die deutsche Geschichte vom Gesetzgeber erpresst haben. Gerade dieses Bild fügt sich in das der Antisemiten von der Macht der Juden, die mit den Herrschenden auf gutem Fuß stehen und sich Privilegien erschleichen. Doch mit der Willfährigkeit der Regierung und des Parlaments hat es eine andere Bewandtnis. Nicht die Juden haben dieses Gesetz erzwungen, sondern der Staat hat es ihnen bereitwillig und eilfertig gewährt. Angela Merkel brachte den eigentlichen Sinn der Gesetzgebung wie folgt auf den Punkt: „Ich will nicht, dass Deutschland das einzige Land auf der Welt ist, in dem Juden nicht ihre Riten ausüben können. Wir machen uns ja sonst zur Komiker-Nation" 44 Die Bevölkerung, die mehrheitlich gegen das Beschneidungsgesetz ist, hat recht mit ihrem Missmut gegen die Regierung und die Politikerkaste, denn sie handelte in diesem Fall tatsächlich gegen den Volkswillen. 45 Aber gegen das Volksinteresse handelte der Gesetzgeber nicht. Dieses kollektive Interesse weiß die Politik in der Tat besser zu erkennen als das Volk, weil die Regierung das internationale Umfeld der bundesdeutschen Politik miteinbezieht und sich hier nicht bloß am kurzfristigen Lustgewinn orientiert wie der gemeine Pöbel.
Wenn Angela Merkel von der Sicherheit Israels spricht, die zur deutschen Staatsräson gehöre, ist genau dieses deutsche, außenpolitische Interesse gemeint und eben dieses Interesse meint Reinhard Merkel wenn er im Zusammenhang von Shoa und Beschneidung vom „rechtspolitischen Notstand“ spricht, welcher auch die Außenpolitik tangiere. 46 Es geht hierbei um eine wohlfeile Rücksichtnahme auf jüdische Interessen, die aus Imagegründen für eine auf allen Märkten der Welt tätige Exportnation geboten ist, wenn sie den Makel, der Auschwitz zumindest in der westlichen Welt bedeutet, loswerden will. Doch dadurch geraten die Juden in Deutschland in eine prekäre Lage; sie werden auf diese Weise in den Schoß des Staates getrieben, dessen Personal es unter anderen Umständen zupass kommen könnte, sie der Bevölkerung zum Fraß vorzuwerfen.
Die Hofierung der Juden hat den Zweck, die Juden in die Rolle der Hofjuden zu zwingen. Schutz, wird ihnen bedeutet, erfahren sie nur vom Staat, während die Bevölkerung jeder Zeit parat steht, auf sie einzuschlagen. Als Hofjuden im postnazistischen Deutschland haben sie nicht die Funktion, der Regierung Geld, sondern dem Land credibility zu verleihen. Deutschland braucht die Juden als Unterpfand seiner Widergutwerdung. Dass Juden im Nachfolgestaat des Deutschen Reiches leben ist der Beweis dafür, dass Deutschland aus seiner Vergangenheit gelernt hat und deshalb wieder eine entscheidende Rolle in der Völkerfamilie spielen darf. Ohne Juden in Deutschland keine souveräne, deutsche Politik.
Der Staat als realer Gesamtkapitalist ist insofern eher bereit, den Juden einen Platz in der Multikulti-Ecke anzuweisen, als die Bevölkerung, die auf kurzfristige Triebabfuhr schielt. Und in eben diese Ecke drängen sie auch die staatstragenden Journalisten wie Prantl und Bommarius. Selbstverständlich gibt es auch Juden, die diese Ecke als willkommenes Angebot sehen und durch Selbstethnifizierung das jüdische Paradox, Nation, Volk, Religion, Kultur, Konfession usw. in einem zu sein, zu dieser Seite hin auflösen wollen, um wenigstens als ethnische Minderheit mit skurrilen und manchmal auch ganz pittoresken Riten vom Volk anerkannt zu werden.
Wenn Charlotte Knobloch jedoch durch die Beschneidungsdebatte die „verschwindend kleine jüdische Existenz in Deutschland infrage“ 47 gestellt sieht, hat sie die Schwere des Vorfalls erkannt. „Obwohl die Juden weiter nichts wollen als Gleichheit vor dem Gesetz, müssen sie diese doch ganz besonders wollen, denn für sie ist der Rechtsstaat existentiell, für die Deutschen erwiesenermaßen nicht. Daß die Juden Objekte bleiben, 'der Gnade ausgeliefert', auch wo sie nur auf ihrem Recht bestehen, diese Bemerkung Theodor W. Adornos und Max Horkheimers gilt fort.“ 48 Ihnen wurde die Gnade gewährt, doch diesmal war es nicht der Mob und auch nicht einzelne Bürger, sondern eine staatliche Instanz, die den Angriff ausführte und ihr Mittel war das Recht. Frau Knobloch hat das erkannt: „Der Kölner Richter sieht indes weder eine unzumutbare Beeinträchtigung des elterlichen Erziehungsrechts noch eine unzulässige Grundrechtseinschränkung der Religionsfreiheit. Seine fragwürdige Argumentation blendet religiöse Aspekte in einer Weise aus, die mit dem rechtsstaatlich gebotenen Maß an Neutralität nichts mehr zu tun hat. […] Der Kölner Richter kriminalisiert jüdische Eltern, die ihrem Kind eine religiöse Heimat geben möchten. Mit ihm hat der von der Zirkumzision förmlich besessene Strafrechtler Holm Putzke endlich einen Mitstreiter gefunden.“ 49 Erst hierdurch erklärt sich ihre drastische Äußerung, die jüdische Existenz in Deutschland sei gefährdet. Und mit dieser Einschätzung der Lage der Juden in Deutschland hat sie recht. Denn die Feststellung, die Uli Krug in einem anderen Zusammenhang über Frau Knobloch machte, gilt noch immer: „Sie [Frau Knobloch; N.M.] steht, pars pro toto für die deutschen Juden, auf Gedeih und Verderb unter dem Schutz eines zunehmend wankelmütigen und, spätestens nach Schröders wohlberechneten Vorstößen der zurückliegenden eineinhalb Legislaturperioden, wieder über die Maßen deutschen Souveräns. Und gerade weil sich dieser deutsche Souverän vor dem Hintergrund der seit 1989 offen währenden Dauerkrise seiner bis dato gängigen Integrationsmechanismen besonders volksnah und 'menschlich' gibt, ist er durchaus stimmungsabhängiger, als es die ehemalige Bundesrepublik war.“ 50
Sobald sich dieser Unterschied aber im Bewusstsein der Bevölkerung verankert hat, wird sein Inhalt zur materiellen Gewalt, also zu mehr als bloß einer Idee. Das gilt auch für das später erwähnte Bewusstsein der Amerikaner vom Eigengewicht der gesellschaftlichen Institutionen gegenüber dem Staat.
↩
Als Beispiel und pars pro toto für die oben dargestellte undialektische Betrachtungsweise kann Thomas von der Osten-Sacken dienen. „Da konnte ich nur antworten, dass dem Urteil immerhin die Idee der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz zugrunde liege, eine höchst verteidigenswerte republikanische Idee, die von den Nazis bis aufs Messer bekämpft wurde und die sie deshalb spätestens 1935 mit den Nürnberger Rassengesetzen auch abschafften, die Nazis also ein solches Urteil natürlich niemals gefällt hätten, sondern ganz im Gegenteil, wo immer sie konnten, jede Art rechtlicher Sonderbehandlung von Juden befürworteten, ja forcierten. Es wäre also weit mehr im Sinne der Nazis gewesen, allen laut Nürnberger Gesetzen als Juden definierten Menschen einen Beschneidungszwang aufzulegen. “ (Thomas von der Osten-Sacken, Vernunft und Vorhaut, auf: http://jungle-world.com/jungleblog/1761/) Osten-Sacken versucht das Bild, das sich die rassistische Ideologie der Nazis von den Juden gemacht hat, mit dem von den Juden selbst gemachten Bild zu identifizieren und auf diese Weise die Beschneidung zu einer Art Rassenmerkmal zu machen. Die jüdischen Verbände, die heute für sich das Recht auf Jungenbeschneidung reklamieren, wären dann in dieser Hinsicht auch nicht besser als die Nazis damals.
↩
Georg Paul Hefty, Strafbare Beschneidung, auf: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/nach-dem-koelner-urteil-strafbare-beschneidung-11802626.html
↩
„Die positivistische Abwägung des Gerichts stellt gleiches Recht für alle fest und verneint Gruppensonderrechte, die mit dem Grundgesetz nicht vereinbar wären. Das ist das Gegenteil jedweder rassistischen Ideologie.“ Hannah Wettig, Recht vor Glaube, auf: http://jungle-world.com/artikel/2012/29/45904.html. Hierzu auch: Mathias Küntzel, Kontaminiertes Terrain, auf: http://www.perlentaucher.de/essay/kontaminiertes-terrain.html.
↩
Durch Lessing erhielt diese Konzeption eine universell-humanistische Prägung. Er sprach von einer fortschreitenden Offenbarung als einen Erziehungsprozess der Menschheit, innerhalb dessen Israel „dem Alter der Kindheit entspricht“. Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, §16, zitiert nach Jochanan Bloch, Das anstössige Volk, Heidelberg 1964, S. 37.
↩
„Im 63. Jahr des Grundgesetzes wird gerichtlich manifest, dass es verschiedene Arten des 'Nicht-Garantieren-Könnens' gibt: Der Staat lebt von Voraussetzungen, die er nicht garantieren kann im Sinne von nicht zu garantieren vermag, aber er lebt auch von solchen, die er nicht garantieren wollen kann, vielleicht sogar überhaupt nicht garantieren darf. Dazu gehören - folgt man dem Kölner Gericht - wohl solche religiösen Traditionen, die gerade jene Rechtsgüter verletzen, zu deren Garantie der moderne Staat in historischer Ablösung von allerlei Gottesstaatvorstellungen überhaupt geschaffen wurde. Dazu gehört die körperliche Unversehrtheit jeder Person. Dazu gehört folglich der Schutz vor Beschneidungen im Kindesalter aus religiösen Gründen." Georg Paul Hefty, Strafbare Beschneidung, a.a.O.
↩
Thierry Chervel, Die Dialektik der Gegenaufklärung, auf: http://www.perlentaucher.de/blog/276_die_dialektik_der_gegenaufklaerung.
↩
Thementage Freiburg, Was läuft auf dem Blog von Clemens Heni, auf:
↩
Freimaurer, katholische Kirche und multinationale Konzerne vermögen eine ähnliche Rolle einzunehmen wie die Juden, doch nur den Juden gegenüber stellt sich die Einheit her.
↩
Zitiert nach: Jochanan Bloch, Das anstössige Volk, a.a.O, S. 9f.
↩
Saul Ascher, Germanomanie, zitiert nach: Gordon A. Craig, Über die Deutschen, München 1982, S. 149.
↩
Johann Gottlieb Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution, zitiert nach: Micha Brumlik, Deutscher Geist und Judenhaß, München 2002, S. 89f.
↩
Im folgenden wird, wenn nicht anders vermerkt, aus diesen Schriften zitiert: Bruno Bauer, Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden, in: Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz, Leipzig 1989, S. 136-154 (=BB); Karl Marx, Zur Judenfrage, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (MEW) Bd. 1, Berlin/Ost 1976, S. 347-377 (=KM). Die Seitenzahlen nach den Zitaten beziehen sich auf diese Werke.
↩
Bruno Bauer, Der christliche Staat und unsere Zeit, auf:
www.marxists.org/deutsch/referenz/bauer-b/1841/06/staat.htm.
Die antistaatlich-blasphemische Absicht stand in dieser Frühschrift von Marx im Vordergrund. In Fetischkapitel von „Das Kapital“ wird er die reale Metaphysik so fassen, dass er sie nicht als bloß imaginäre abzutun braucht, um ihr Recht zu bestreiten.
↩
„[S]ein (des Staates, N.M.) Recht war nur das formelle, das als solches noch als Zwang erscheint und erscheinen muß, weil es nur jenes abstrakt allgemeine ist, welches die Einzelnen als solche und als diese Masse atomistischer Punkte zusammenhält. Das Recht war noch nicht zu jener lebendigen und inhaltsvollen Allgemeinheit entwickelt, welche die Idee der Sittlichkeit und in ihr selbst das wesentliche Interesse und Anliegen des Einzelnen ist.“ Bruno Bauer, Der christliche Staat und unsere Zeit, a.a.O.
↩
Als Sakrileg wird es in den USA empfunden, wenn der Staat sich in die Angelegenheiten der gesellschaftlichen Gruppen einmischt, mögen diese auch noch so verschroben sein. Mathias Rüb stellte z.B. im Zuge eines Reportes über eine besondere Form der jüdischen Beschneidung, das Metzitzah B'peh, bei der der Tropfen Blut der bei der Beschneidung hervortritt vom Mohel mit dem Mund abgesaugt wird, fest: „Doch wenn der Staat versucht, sich in die Rituale der Religionsgemeinschaften einzumischen – und wenn es nur um ein Randphänomen wie das Metzitzah B'peh geht -, dann ist zuverlässig mit einer Massenbewegung dagegen zu rechnen.“ Mathias Rüb, Der Kampf der Rabbis, FAZ vom , S. 12.
↩
Vgl. insb. Federalist Papers Nr. 10 und 51, in: Die Federalist Papers, Hrsg. Barbara Zehnpfennig, München 2007.
↩
Ebd., S. 322.
↩
Gerade dieser Aspekt Amerikas wird in der aktuellen Wirtschaftskrise von Obama zu verändern versucht. Obamacare ist nur ein Beispiel dafür.
↩
Vgl. hierzu: Dan Diner, Vorreiter der Moderne, auf: http://www.spiegel.de/spiegelgeschichte/a-585317.html
↩
Gerade dieser Volks- oder Stammescharakter der Juden steht in der Beschneidungsdebatte im Zentrum: „The assault on Jewish ritual in Europe has broadened the appeal of anti-Semitism while retaining the core themes and techniques associated with its most recent, Israel-centered manifestation. At root, both strands of anti-Semitism are motivated by antipathy towards Jewish 'tribalism.' In stubbornly retaining their differences, Jews wilfully go against the grain of history, whether by insisting on the integrity and security of their nation-state, or by retaining religious practices that are incompatible with enlightened secularism. […] Anti-ritualism, like anti-Zionism, uses human-rights concerns as a fig leaf for a much more insidious agenda: namely, the removal of those characteristics that make Jews Jewish.“ Ben Cohen, Europe´s Assault on Jewish Ritual, in: Commentary (Nov. 2012), auf:
Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1996, =AGS 3, S. 29.
↩
Vgl. Joachim Bruhn: Der Staat des Grundgesetzes, . Die Forderung nach einen Verfassungspatriotismus in Deutschland, wie sie Jürgen Habermas erhob, verkennt diesen Zusammenhang entweder oder will die Bürger erst recht auf die Faschismusfähigkeit des deutschen Staates einschwören.
↩
Chervel, Die Dialektik der Gegenaufklärung, a.a.O.
↩
Dass es sich bei dem Kölner Urteil, das am Anfang der Debatte stand, nur um das eines Landgerichts handelt, durch das kein Präzedenzfall geschaffen wurde, ist richtig. Aber das Gericht nahm über den konkreten Fall hinaus grundsätzlich Stellung zur Beschneidungsproblematik und sorgte dadurch für Verunsicherung.
↩
Heiner Bielefeld, Der Kampf um die Beschneidung, Blätter für deutsche und internationale Politik, Sep. 2012, auf: www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2012/september/der-kampf-um-die-beschneidung.
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Z.B.: „[...] und so erlangt ihr das Ziel eures Glaubens: die Rettung der Seelen.“ 1. Petrus 1:9.
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Vgl. erneut Thomas von der Osten-Sacken, Vernunft und Vorhaut, a.a.O. Osten-Sacken ist sich der Schwäche des Rechtspositivismus eines Hans Kelsens, auf den er sich u.a. beruft, offensichtlich nicht bewusst. Weil sich aber der Rechtspositivismus zur höchsten Norm neutral verhalten muss, ist ihm die eine genauso gut wie die andere. Der Jurist hat folglich die Norm zu akzeptieren, die vorhanden ist, sei sie nun eine völkische oder aber eine demokratische. Der Rechtspositivismus dient jedem Herren und redet sich am Ende darauf hinaus, dass er nur geltendes Recht umgesetzt hat.
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Dies lässt sich nie ganz vermeiden, weil es immer eine „Lücke“ im Gesetz gibt. Aber eine sich möglichst an den Buchstaben des Gesetzes orientierende Rechtsprechung bietet noch die beste Gewähr vor der Willkür des Richters. Die klassische Formel um der Willkür das Tor zu öffnen lautet der „Geist“ oder die „Substanz des Grundgesetzes“. Diese Formel ist der Versuch, der notwendigen Unbestimmtheit im Gesetz durch Rekurs auf den den Gesetzen zu Grunde liegenden, nicht genau fassbaren Geist zu begegnen. Aber wird der Geist des Gesetzes als Rechtsquelle anerkannt, wird einer Gruppe von Menschen - in diesem Falle den Richtern - ein privilegierter Zugang zu diesem Geist zugesprochen. Thomas von der Osten-Sacken kann aber auch dieser Versuchung nicht widerstehen. Vgl. Thomas von der Osten-Sacken, Der Republikaner und die Beschneidung, auf: http://jungle-world.com/jungleblog/1767/.
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Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass das Kindeswohl zum Einfallstor wurde: „Erst im nationalsozialistischen Regime kam es zu einer nahezu vollständigen Aufgabe der elterlichen Autonomie und der Staat nahm in weiten Teilen die Bestimmung der Erziehungsziele für sich in Anspruch. Die Ausrichtung der Erziehung im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie wurde für die Eltern zu einer Verpflichtung und das Wohl der Gemeinschaft hatte uneingeschränkten Vorrang vor den individuellen Interessen sowohl der Kinder als auch der Eltern. Als Instrument für den staatlichen Machtzuwachs über die Erziehungsgewalt dienten dabei auch die bereits bestehenden, für Wertungen und Wertwandel offenen Generalklauseln. Sie ermöglichten es den Gerichten, die nationalsozialistische Ideologie weitreichend umzusetzen und die den staatlichen Maßstäben entsprechenden und den Zwecken der Staatsregierung entgegenkommenden Entscheidungen zu treffen. In keiner anderen Zeit wurde die Kindererziehung derart als Mittel zum Zweck missbraucht und das Kindeswohl derart inhaltlich entleert. […] In der Geschichte unübertroffen instrumentalisiert wurde die Generalklausel „Kindeswohl“ jedoch unter der Herrschaft der Nationalsozialisten. Die aus ideologischer Sicht für die staatlichen Interessen beste Lösung wurde ungeachtet des Einzelfalles gleichgesetzt mit dem Wohl des Kindes.“ Vgl. Katharina Parr, Das Kindeswohl in 100 Jahren BGB, Würzburg 2005, S. 185.
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Reinhard Merkel, Die Haut des Anderen, auf: http://www.sueddeutsche.de/wissen/beschneidungs-debatte-die-haut-eines-anderen-1.1454055.
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Die Einschränkung der Grundrechte der Kinder durch die Eltern ist in vielerlei Hinsicht erlaubt. So dürfen Eltern den Kindern z.B. durch Hausarrest ihre Freiheit entziehen.
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Die Schädigung des Kindeswohl z.B. durch Passivrauchen bleibt wohl auch weiterhin erlaubt, obwohl hier die Schädigung besser nachgewiesen ist als die durch die Jungenbeschneidung.
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Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 1980, S. 39. „Und wie sich die Ware notwendig in Ware und Geld zerlegt, sich die Antinomie eröffnet, die durch das automatische Subjekt ebenso nachhaltig wie begriffsstutzig ‘versöhnt’ wird, so zerlegt sich der Warenhüter, das (juristische) Subjekt, in die Antinomie von Bourgeois und Citoyen, deren Synthese der Souverän ist in der Gestalt negativer Versöhnung, wie sie zuerst in der Form des Soldaten erscheint: kasernierte Mordenergie, bedingungslose Bereitschaft zum Töten und Getötetwerden, damit die Dezision über Leben und Tod in letzter Instanz.“ (Joachim Bruhn, Echtzeit des Kapitals, auf: http://www.isf-freiburg.org/isf/beitraege/bruhn-echtzeit.gewalt.html#fnverweis76).
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Vgl. American Jewish Committee, Fakten und Mythen in der Beschneidungsdebatte, auf:
http://gruene-berlin.de/sites/gruene-berlin.de/files/ajc_faktenmythenbeschneidungsdebatte.pdf
Siegfried Bernfeld, Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, Leipzig/Wien/Zürich 1928, S. 78f.
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„Nachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte, war die äußerste Intoleranz des Christentums gegen die draußen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge geworden“. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Studienausgabe Bd. 9, Frankfurt/M. 2000, S. 243.
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Vgl. z.B. die Aussage von Rolf Dietrich Herzberger, dem Ziehvater von Holm Putzke, „ich will den Juden ihr Beschneidungsritual nicht wegnehmen“, aber fordert, „dass sie es in einer Weise läutern und sublimieren, dass es vereinbar wird mit den staatlichen Gesetzen.“ Zitiert nach Charlotte Knobloch, Die Brit Mila bleibt!, http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/13458.
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Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, a.aO., S. 193.
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Ebd. Heute spricht selbstverständlich niemand mehr von Rasse, aber ein anderer Nenner, auf den die Volksgenossen sich bringen lassen, wird sich finden. Israelkritik könnte zwar als ein solcher Nenner dienen und auch israelkritischen Juden ermöglichen Teil der Volksgemeinschaft zu werden, aber sie blieben Alibi-Juden, die den anderen Volksgenossen schon alleine deshalb suspekt blieben, weil sie immer auch Bürger des jüdischen Staates werden könnten.
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Diejenigen, die den Juden ein Beschneidungsalter von 14 Jahren anempfahlen, wollten aus der jüdischen eine muslimische Beschneidung machen.
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Angela Merkel, zitiert nach: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundeskanzlerin-merkel-warnt-vor-beschneidungsverbot-a-844671.html.
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Laut Umfrageergebnissen lehnen 70 Prozent der Bevölkerung das Gesetz ab. Vgl. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/studie-mehrheit-der-deutschen-gegen-beschneidungsgesetz-a-874473.html.
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Vgl. R. Merkel, Die Haut des Anderen, a.a.O. Da auch: „Die deutsche Politik hat wegen des hier organisierten scheußlichsten Massenmordes der Geschichte ganz gewiss eine weltweit singuläre Pflicht zur
besonderen Sensibilität gegenüber allen jüdischen Belangen.“
Charlotte Knobloch, Wollt ihr uns noch?,
http://www.sueddeutsche.de/politik/beschneidungen-in-deutschland-wollt-ihr-uns-juden-noch-1.1459038
Joachim Bruhn, Der Rechtsstaat und die Juden, in: konkret, Nr. 9/1994, S. 34.
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Charlotte Knobloch, Die Brit Mila bleibt!, a.a.O.
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Uli Krug, Frau Knobloch tat recht, in: Bahamas, Nr. 52/2007, S. 50.
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